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21.08.11 - 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)

Niemand hat die Absicht 100 Meilen zu laufen

Autor: Joe Kelbel

In Staaken engangierte sich 1961 der 20 jährige Dieter Wohlfahrt als Fluchthelfer für Studenten. Als er mal wieder den Grenzzaun zerschnitt, um einer Frau zur Flucht zu verhelfen, erwarteten ihn bereits die Grenzsoldaten und eröffneten sofort das Feuer. Die Frau hatte ihn verraten. Er starb hilflos im Grenzstreifen. Der Gedenkstein berührt mich. Verrat an Volk und Freunde, absolute Scheiße.

Der Bahnhof Staaken war der Grenzbahnhof für die Transitzüge. Der Bahndamm wurde durch zwei Mauern von der Umgebung abgeriegelt. Die Franziskuskirche stand mitten im Grenzstreifen, wurde 1987 von der DDR abgerissen.

Kurz bevor wir VP 13 (km 99,4)erreichen, erinnert ein Gedenkkreuz an Willi Bock, der 1962 gleich zweimal flüchtete und wieder in die DDR zurückkehrte. Er wurde zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt, vorzeitig entlassen und flüchtete 1966 erneut. Seine Kleidung verfing sich im Stacheldraht, er wurde per Maschinenpistole getötet. Mein Mageninhalt kennt zwei Richtungen.

Versuche von West-Berliner Seite, mit Lautsprechern oder Plakaten die DDR Soldaten bei Flüchtenden zum Wegschauen zu bewegen, verfehlten ihre Wirkung nicht gänzlich.

Wir gelangen zur ehemaligen West-Berliner Exklave Eiskeller. Es gab insgesamt 10 Exklaven außerhalb der Mauer, innerhalb der DDR, die zu Westberlin gehörten. Und einige, die zur DDR gehörten, aber auf West-Berliner Territorium lagen. Die Exklaven wurden 1971,74 und 88 durch Gebietstausch aufgelöst („Lummer ist kein Dummer“).

Der Name Eiskeller: Es gab natürliche Höhlen und Stollen in denen Natureis für Lebensmittel und Bier gelagert wurde. Eiskeller gehörte zu Westberlin, 3 Familien lebten hier, Stromleitungen wurden erst 1978 gelegt. Die Verbindung bestand nur über eine 4 Meter breite und 800 Meter lange Straße. Innerhalb von Eiskeller gab es wiederum  Enklaven, die zur DDR gehörten. 24 Polizisten und 12 britische Soldaten waren hier stationiert. Hier wurden die meisten Flüchtlinge durchgeschleust. Ein ehemaliger Grenzer erzählte, wie das ablief: ganz einfach per Aluleiter über die Mauer, Fahrrad blieb auf westlicher Seite, jedoch auf DDR-Gebiet -  das ging noch bis in die 80er Jahre. Da jetzt das Gebiet unter Naturschutz steht, sind der „Tote Briefkasten“ und die Markierungen an den Baumstämmen noch erhalten. Westberlin-Falkensee-Ostberlin-Falkensee-Westberlin, 2 Grenzen und der Weg war offen.

Verdammte Kacke, was verzähle ich denn hier. Ich hoffe es wird begriffen!
1961 gab es ziemlichen Tumult, als ein 12 Jähriger aus dem Gebiet Eiskeller erzählte, er wäre von DDR-Grenzposten auf seinem Schulweg nach Spandau belästigt worden, weswegen er nicht zur Schule gehen konnte. Darauf ging ein Bild um die Welt: Fünf britische Soldaten begleiteten mit Panzerspähwagen den Jungen aus der Exklave nach Spandau zur Schule. Heute ist Erwin S. 62 Jahre alt, er hatte einfach nur die Schule geschwänzt und die Geschichte erfunden.

In dem Haus, in dem Erwin S. aufgewachsen ist, wohnt jetzt Peter F.. Lächelnd, mit dickem Bauch und gelben Nikotinfingern sitzt er da. Eine große Tafel vor dem Haus: Hier gibt es Bier!

Gedenkkreuz für Adolf Philipp. Warum er von West Berlin auf den Grenzstreifen ging, kann niemand sagen. Er wurde am 15.Mai 1964 erschossen.

An der Havel sind die ehemaligen West-Berliner Exklaven Fichtewiese und Erlengrund. Der kleine Weg hier heißt Bürgerablage, hier gab es ein Eingangstor zu den zwei Exklaven. Die Grundstücksbesitzer meldeten sich per Sprechanlage bei den DDR-Grenzposten. Wir laufen über diesen ehemaligen Grenzposten und befinden uns wieder auf Brandenburgischen Boden.

Km 105, VP Schönwalde. Dann kommen wir nach Henningsdorf. Von den hiesigen Stahlwerken  und des Lokomotivwerkes zogen am 17.Juni 1953 die Arbeiter durch  West-Berlin bis zum „Haus der Ministerien“ nach Ost-Berlin, um ihre politischen Forderungen bei der DDR-Regierung durchzusetzen.

 
© trailrunning.de 26 Bilder

Der Grenzstreifen ist hier noch sehr breit und nur von einer Heidelandschaft bewachsen. Werner entledigt sich seiner Cola. Sein Röhren vertreibt ein Rudel Damhirsche. Rettung verspricht das Gasthaus „Jagdhaus“ mitten im Wald. Wir sprengen eine Hochzeitsgesellschaft. Unfreundliche Gesellschaft, unfreundliche Keller. „Dies ist ein Notfall!“ „Mauerweg? Was ist das?“ Berlin hat vergessen. Erinnerungen an den Simplonpass vor zwei Wochen, als mich dort die Hochzeitsgesellschaft einlud: „Iss! Trink! Ihr seid Helden“.  Hier kämpfen wir um ein teures Glas Bier und verlassen den Laden über den Zaun.

Km 111, Verpflegungspunkt 15 „Turm Nieder Neuendorf“.  Ich stelle mir die Frage, ob ich das schaffen würde: Nach Auslösen des Signalzaunes mit der Leiter 30 Meter über den Todesstreifen laufen, dann über die Mauer klettern und durch die von Patrouillenbooten bewachte Havel schwimmen. Das Ganze unter den Augen der Soldaten auf dem Wachtturm da oben.

Peter Kreitlow (20) wurde hier am 24.01.63 von Sowjettruppen erschossen, dem Polen Franciszek Piesik (25) gelang der Sprung in die Havel. Dort verließen ihn die Kräfte und er ertrank. Seine Leiche wurde 2 Wochen später von Westberliner Seite geborgen.

Was hätte ich gemacht? Hätte ich bei meinem Fluchtversuch auf die Grenzer geschossen? Die Leser wissen die Antwort. Sind wir doch froh in einer Zeit zu leben, wo Mütter und Mädchen nicht weinen müssen. Laut wummert die Musik der zahlreichen und großen Partyboote zu uns herüber. Laue Sommernacht, Berlin lebt und hat vergessen.

Wir überqueren den Oder-Havel-Kanal  über eine verrostete Stahlbrücke. An dieser Stelle durften Transitschiffe von und nach Polen die Grenze passieren, Transitverkehr  Berlin- Bundesrepublik war nicht möglich. Die DDR baute 1953 den Havelkanal, um West-Berlin umschiffen zu können.

VP 16, Ruderclub Oberhavel (km 117) Depotstelle für Wechselsachen. Cut Off Zeit genial unterboten, Duschmöglichkeit im Ruderclub, halbe Stunde Pause. Ganz fantastische Betreuung: „Geht´s noch? Willst du wirklich weiterlaufen? Geht`s dir gut?“ Ich werde persönlich zur Dusche begleitet(durch einen Mann), er trägt mir die Tasche mit dem Gepäck. Ab jetzt laufe ich im orangenen m4y-shirt. Mit Matthias gehe ich auf die Tanzfläche, Bratwurst kann ich nicht essen. Sehr viele Läufer legen sich hier auf die Feldbetten, ich werde sie nie wiedersehen. Der Point Of No Return. Wer ist schon weiter als 117 km gelaufen?

Mit Hartmann marschiere ich einige Stunden weiter, bis mich die Kräfte verlassen.
1982 wurde in Stolpe der Grenzübergang eröffnet. Die Bundesrepublik finanzierte die Autobahn nach Hamburg (A111) samt Grenzübergang, der allerdings nur für den Transitverkehr nach Skandinavien benutzt werden durfte.

Bei km 125 erreichen wir Hohen Neuendorf. Die 18 jährige Marienetta starb hier am 22.Nov 1980 im Kugelhagel der Grenzposten bei einem Fluchtversuch mit Leitern. Ihre zwei Begleiter erreichten West-Berlin, die später von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Stasi an Presse-Veröffentlichungen gehindert wurden. Das Gedenkkreuz auf West-Berliner Gebiet (Frohnau) wurde von der Stasi entfernt.

VP 18 am „Naturschutzturm“, einem Grenzwachturm mit „Führungsstelle“. Alle 500 Meter standen hier Wachttürme. Hier starb Joachim Mehr beim Fluchtversuch. Sein Freund Hans Jürgen K. wurde festgenommen.

Beate steht hier. Sie hat stundenlang auf mich gewartet um mir ein Bier zu servieren. Aber selbst das Bier bekomme ich nicht mehr in meinen Magen. Mir geht es schlecht, sehr schlecht. Es ist Mitternacht. Ich bin seit 16 Stunden am Laufen. In diesem Moment bekommt ein Helfer per Funk die DNF-Zahlen durch, also die Abbrecher, auf die sie nicht mehr warten müssen. Ich sitze da, greif mir an den Kopf. Brutale DNF-Zahlen! Wir sind ein erlesener Club Ultraläufer und dann diese Zahlen, die ganze Situation hier irgendwo in der kalten, dunklen  Einsamkeit an einem ehemaligen brutalen Grenzstreifen mitten in der Nacht. 

Dann legt Beate ihren Arm um mich und sagt irgendetwas wie: „ Ganz große Klasse, ich bewundere euch.“ Irgendwie hat sie mehr gesagt, ich weiß nicht mehr was, aber es war so der Punkt, wo ich begriff, dass ich diesen Lauf finishen muss, dass ich berichten muss, dass die Welt nicht vergessen darf, dass dieser Lauf in 5, 6 Jahren Weltformat hat, dass wir alle eine Aufgabe haben, und dass ich mit meinem Willen etwas bewegen kann.

 

Informationen: 100 Meilen Berlin (Mauerweglauf)
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