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02.10.16 - Ultra Trail Atlas Toubkal (UTAT)

Der längste Tag in meinem Leben

Autor: Joe Kelbel

Man erkennt deutlich, daß hier einst ein Gletscher floß. Für den 1000 Meter-Anstieg (3 km) durch die Moränenlandschaft brauche ich zwei Stunden, während denen ich von unten per Fernglas kontrolliert werde. Deshalb die Cut-Off-Zeit - man muss hier bei Tageslicht durch. Doch auch wer im Hang noch schwächelt, bekommt unangenehmen ärztlichen Besuch von oben, muss dann am nächsten Morgen den 40 Kilometer-Abstieg zurück nach Setti Fatma mit den Helfern machen.

Die Markierungen in dem spitzen Geröll sind kaum erkennbar. Oben angekommen, offenbart sich das nächste Tal, der nächste Anstieg. Ich bin von 4000ern umgeben. Acht gibt es hier im Nationalpark Toubkal. Der höchste ist der Toubkal (4167 m), der gewaltig vor mir im fahlen Licht, unter einer mysteriösen Wolkendecke protzt.

Hier am Pass steht eine Relaistation der Organisation, die leitet die Funkgespräche aus den Tälern zum Hauptquartier nach Oukaimeden, wo die Zwischenzeiten auf die Homepage eingegeben werden, damit die Daheimgebliebenen das Rennen mitverfolgen können. An der Relaistation hält der Arzt eine Hand hoch: „Combien des doits?“ – „Dix!“ Da muss er lachen, schaut mir aber noch in die Augen. Wenn meine Pupillen unterschiedlich groß wären,  dann wäre hier Schluß für mich.

Die Trouble-Ärztin unten hat ihn wohl kirre gemacht. Jetzt ist der Doc froh, daß ich fit und fröhlich hier oben bin. Höhenkrankheit ist nicht berechenbar, die Besttrainiertesten kann es erwischen. Ich bin froh, außer Konzentrationsschwäche keine Probleme zu haben, muss allerdings zu oft Ausgleichsschritte machen.

Es wird dunkel. Ich habe noch 15 Kilometer bis zur Verpflegungstation vor mir, dort ist Cut-Off Sonntag 4:30 Uhr morgens. Die Schlucht, durch die ich jetzt laufe, muss sehr schön sein, es gibt viel Wasser und steile Wände, ich sehe aber nichts. Kurz geht es hinauf zum Djebel (Berg) Aksoual. In Azib Douzrou verirre ich mich, weil ich die reflektierenden Augen der Schafe für die Nachtmarkierung halte. Meine Konzentration lässt stark nach, ich rutsche in einen Bewässerungsgraben.  

Als ich hier 2012 vorbeikam, wühlte eine Streifenhyäne im Müll des Dorfes. Theoretisch tun die nichts, aber wie wird es sein, wenn, wie geplant, wieder Löwen ausgewildert werden? Es gibt 84 Berberlöwen auf der Welt. Die Reinrassigsten leben im Zoo von Hannover. König Hassan II hielt sich bis 1970 noch Berberlöwen in seinem Palast. Der letzte wilde Berberlöwe wurde 1942 in diesem Gebiet erschossen. Die Berberlöwen sind die Größten, sie wurden in den römischen Arenen eingesetzt.

Die großen schwarzen Skorpione flitzen schnell vor meinem Scheinwerfer unter Steine. Sie können nur gefährlich werden, wenn ich mich auf einen Stein setze, oder wenn ich den Viechern im Fallen zu nahe käme. Lahcen passierte das mal während des Marathons des Sables, er musste das Rennen deswegen aufgeben. Schmerzhaft sind auch die stachligen Kissen, die man im Fallen greift. Es sind die „Radiateurs des Bergers“, die Heizungen der Hirten. Die ölhaltigen Stachelkissen geben Wärme und Signalfeuer.  Es gibt noch Spinnen, kleine, schwarze und langsame, nicht erwähnenswert aber ich habe jetzt nichts zu schreiben.

Am PC 6 Azib Likemt (km 68) komme ich ca um 22:00 Uhr an. Cut Off 04:30 Uhr (02.10.)  Hier ist ein wichtiger Knotenpunkt für Atlasläufer aus allen Richtungen und eine Ansammlung von Azibs (Steinunterkünfte für Vieh). In einem davon entdeckte ich vor 4 Jahren ein Klo: Ein Loch mit dem Durchmesser einer Bierdose im Steinboden und ein Eimer Wasser mit einem Schöpflöffel.  

Ein paar Maultierbesitzer wuseln rum. Sämtliches Material wurde vor zwei Tagen hier heraufgebracht. Auch die vielen nach Esel und Petroleum stinkenden Decken, die in einem  einfachen Zelt über zwei tiefschlafenden Läufer liegen. Das Petroleum soll Ungeziefer fern halten, das kümmert die Flöhe aber nicht und mich auch nicht. Ich hänge mir eine Decke drüber, mir ist unglaublich kalt. Die Ärztin fragt mehrfach, ob ich schlafen will. Das ist verlockend, ich gebe nach, sage ihr, sie soll mich um Mitternacht wecken und verziehe mich ins Nachbarzelt, wo auch noch zwei Kameraden sägen.

Es ist unglaublich, wie schnell 90 Minuten um sein können. Geschlafen habe ich nicht, denn die Maultiere vor dem Zelt erzählen sich im Traum tolle Geschichten. Vor vier Jahren lag ich hier bei minus 10 Grad und habe von Toten geträumt, jetzt will ich weiter und kämpfe darum, meinen Kreislauf fit zu bekommen. Das klappt glücklicherweise mit einer großen Portion Proteinpulver.

Vero und Marc machen sich bereit, mir als Besenläufer zu folgen, es ist 00:15 Uhr. Mir tut es um die vier Kameraden leid, die hier bleiben wollen, denn, obwohl sie aus dem Rennen sind, müssen sie denselben Weg wie ich nehmen, nur halt ohne Wertung. Gott, ist das kalt und dunkel da draußen.

Bekloppt, um Mitternacht zu einem 3700 Meter hohen Berg aufzubrechen. Es ist noch bekloppter, wenn man vorher noch auf einen 3600er klettert, dann wieder 1000 Meter runter und dann erst auf den 3700er. Es folgen nun einige Kontrollstationen, teilweise in einem Abstand von drei Kilometern, also  3 Stunden. Ich kenne fast alle Rennärzte, die hier arbeiten von den diversen Rennen in Marocko. Das macht es nicht einfacher, man nimmt mich gerne auseinander.  

Bei Tizi Ounrar oder bei TiziTeharline verliere ich die Markierungen, die Rachid Elmorabity vor zwei Tagen machte. Ich suche und suche zwischen alten Ruinen, dann benutze ich das erste Mal in meinem Leben die Signalpfeife (Pflichtausrüstung), um Vero und Marc zur Hilfe zu rufen. Die Reaktion ist grauenhaft: Es muss hier über 100 Hunde geben und die sind nicht erfreut über meine nächtliche Ruhestörung. Oi, oi, Entschuldigung! Bloß weg hier!

Der folgende Aufstieg geht hinauf zum Tizi N´Tifourhate( 3200m),  dann hinuter zum Tizi N`Tifni, km 76 (2500 m). Die nächtliche, psychologische Belastung ist extrem, in der dünnen Luft hört man seine Schritte nicht. Keine Lichtreflektionen, kein Schall, kein Geruch, nur das All, die Sterne drehen sich.

Marc habe ich lange nicht mehr gesehen, er schwächelt, Vero bleibt bei ihm. Die Milchstraße zieht sich hell leuchtend über den Himmel, unglaublich viele Sternschnuppen flitzen lautlos durch das All. Das belastet mich, warum sind die lautlos? Warum lassen auch die mich alleine?

Es gibt Farben dort oben! Nicht nur weiß und gelb, auch grün und bläulich. Markierungen, Tieraugen, Stirnlampen und Sterne bilden eine blöde Einheit. Die Kuppen der Berge heben sich nicht vom Nachthimmel ab, denn die Athmoshäre ist so dünn, daß kein Licht gestreut wird. Dies also ist das Gefühl der Einsamkeit.

Nächster Höhepunkt ist der Tizi Tichki (3600). Nach einem heftigen Abstieg geht es weiter hinauf zum Tizi N´Tarharate (knapp 3700), km 80. Rechts oben droht der Azrou N´Tamadot, er ist so hoch, daß er die Milchstrasse verdeckt. Als ich beim PC 10 (3500 m) ankomme, liegen Vero und Marc komischerweise schon unter Goldfolie. Ich schätze, unter all den Goldbergen liegen etwa 10 Läufer begraben. Es gibt keine Nasen, keine Gesichter  zu sehen, so, als ob man ein fürchterliches Verbrechen verbergen möchte.

Mir ist so kalt, ich möchte aufgeben, kann nicht mehr stehen, sacke zusammen. Irgendein Helfer wirft Decken über mich, dann leide ich still.

Ich muss die Todesscharte runter, jetzt oder später. 2000 Höhenmeter steil hinab, es ist der gefährlichste Trailabschnitt, den ich kenne, es ist der Abstieg vom Tizi N´Tarharate. Ich gebe Order, mich nach Sonnenaufgang zu wecken, ich möchte bei Tageslicht diesen extremen Abschnitt angehen.

 

 
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Die wenigen reifbedeckten Grashalme glitzern in der Morgensonnes, ich stehe vor dem Zelt in Goldfolie gehüllt und versuche mich zu bewegen, will, daß mein Kreislauf auf Touren kommt, es muss hilflos aussehen. Ein neuer Tag beginnt. Ich suche meine Besenläufer, doch die Maultierführer haben Brot gebacken, das hält sie zurück. Ich gehe um 7:10 Uhr alleine los.

Zunächst komme ich gut voran, bin nicht mehr so wackelig, wie während der Nacht, doch auf den spitzen Steinen löst sich in den nassen Schuhen die Haut von meinen Füßen. Jetzt schmerzt jeder Schritt und ich bretzel ständig hin. Auf der Seite sehe ich einige Gazellen, es sind Cuviergazellen, wie man an der dunklen Färbung erkennt, und schon wieder reißt es mich von den Füßen. Diesmal bleibe ich liegen und genieße den Schmerz.

Etwa um 10:30 erreiche ich das „Auffanglager“. Hier warten die Chirugen auf ihre Kunden, da wird auch mal eine Fingerkuppe angenäht. Kein Scherz.

Während meines Abstieges überholen mich immer mehr Besenläufer, die in der Nacht etwa 25 Abbrecher bis zu den folgenden Kontrollstationen gemacht haben. Jeder kennt mich. Es ist jetzt schon über 35 Grad heiß. Der vordere Fuß rutscht ab. Bevor es zum Spagat kommt, gelingt es mir noch, beide Knie zu beugen. Trotzdem ist es so schmerzhaft, dass mir die Tränen in die Augen schießen.

Unter mir ist nun Around, der Ort, den ich im Mai schon durchlaufen habe. Nun kommen mir Touristen entgegen, die unterhalb der Todesscharte, im Circle von Around, einmal in ihrem Leben den Toubkal erblicken wollen. Marokkanische Touristen sind dick und nervig, sitzen auf Eseln, die mit ihren breiten Tragekörben mir gegen die Brust donnern. Viele Mongolen und viele Deutsche pilgern hier hoch, sie sind anständig, klettern zu Fuß die hohen Stufen hinauf. Die Deutschen grüßen, die Mongolen sind tief eingepackt mit Kopftüchern und Handschuhen. Wie gesagt, wir haben 35 Grad.

Kurz vor dem steinigen Flußlauf von Imlil holt mich Adrian ein, er ist nun für mich als Besenläufer zuständig. Er ist fies, hat eine gänzlich andere Einstellung zum Laufen als ich. Nezdna bietet mir einen Apfel an. Ich freue mich auf mein Dropbag, hoffe, das liegt nicht in der Sonne.

Um 11:15 erreiche ich Imlil (km 88,1700 m). Cut Off um 12:00 Uhr. Hier im Cafe du Soleil war im Mai der Zieleinlauf des Trans Atlas Marathons, jetzt liegen hier unsere Dropbags, meiner gefüllt mit isotonischen Getränken, was Adrian  ausflippen lässt.Er alarmiert die Rennärztin, und die ist nicht zimperlich. Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Puls, irgendwas muss doch an mir zu finden sein. Auf dem Tisch liegend wird Vero an den Füßen operiert, in der leeren Wasserflasche sammeln sich die mit rosa Sekreten gefüllten Ampullen.

Mir ist das in diesem Raum zu hektisch, da kann ich nichts essen. In einer Ecke versuche ich die warme Kleidung der Nacht auszuwechseln, doch ausgerechnet mit der langen Laufhose habe ich meine Probleme. Das langärmlige Hemd brauche ich wegen der stechenden Sonne.

Als ich aus Versehen Adrian statt eines Helfers nach einer Suppe frage, wird er sehr unfreundlich und treibt mich zum Ausgang. 6:15 Stunden habe ich noch für die nächsten 17 Kilometer bis zum Ziel. Leider hat Adrian Recht, ich werde das kaum schaffen.  Das Ziel, Oukaimeden, liegt auf einer Höhe von 2700 Metern, dazwischen liegt der Tizi N´Oukaimeden mit 2900 Metern, also 1400 Meter Anstieg, wenn dazwischen nicht der Tizi irgendwie, und der Tizi irgendwas wäre.

Als ich Pause mache, muss ich mich übergeben. Adrian droht, mir die Startnummer (Dossard) abzunehmen. Er treibt mich aus einer Höhe von 2200 Metern bis zum PC 13 auf 1600 Metern, dann hinauf zu PC 14 in einer Höhe von 2300. Niemals habe ich in irgendwelchen Berichten über den Gedanken eines Abbruchs berichtet, jetzt habe ich die Schnauze voll, ich hasse mein Hobby. Ich rate hiermit jedem ab, jemals mit dem Laufen zu beginnen.

Ab PC 14 schließen sich uns vier Läuferinnen an. Adrian trägt ein Funkgerät, gibt meine Position durch, gibt ab und zu sogar ein gelogenes Lob, um dann wieder unfreundlich zu werden. Adrian läuft vor, die Damen sind hinter mir, weil ich so gleichmäßig laufe, wie Nezna lobt.

Doch ich kann wirklich nicht mehr. Es gibt einen Trick, den schon Özi anwendete: Man zählt seine Schritte, das lenkt die Gedanken über offene Fußsohlen ab: 1,2,3,4 bis 20, sonst wird es zu anstrengend.  Dann von vorne: 1,2,3,4 bis 20. Auf Deutsch, andere Sprachen wären zu belastend, ich muss mich setzen. Adrian hat gewartet, er muss ja, er ist der Besenläufer, bleibt still und vorwurfsvoll neben mir stehen, nicht angenehm. Ich könnte ihm von meiner Laufkarriere erzählen, ich könnte ihm auch sagen, daß ich gestern und heute viel mehr als er gelaufen bin. Doch wir mögen uns absolut nicht.

Vor dem gewaltigen, schiefen Schutthang machen wir ein Briefing. Die Diskussion dauert so lange, daß mir fast Bange wird. Fast, denn wo ich bin, da ist auch ein Weg, und der sieht unbezwingbar aus. Ich mache den Anfang. Wettkampfchef Cyrille  rechnet mit mir im Ziel, er weiß von Adrian, daß ich auf der Zielgeraden bin.

 

 
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Auch Lisa, Moritz, Frank und all die anderen wissen das und empfangen mich auf dem Pass von Tizi Oukaimeden unter den marrokanischen Flaggen mit einem Bier. Das tut sehr gut, geiler Moment, Bierdose und Kameraden! Doch Adrian, der Sklaventreiber  reisst an meiner Startnummer: „Arret! Arret avec cette biere! Depeche toi!“ Dann reißt er mir die Bierdose aus der Hand. Ich bin wütend, kann ihn aber verstehen und werde jetzt schneller, höre den Zielsprecher, höre das Gebrüll der Leute unten im Tal.  Adrian brüllt: „Bravo Joe!“ Er ist ein Lügner.

Mir läuft es endlich mal wieder eiskalt den Rücken runter, ich fliege immer schneller über die karge Bergwiese, habe mehr Beifall als der Gewinner. Ich bin umringt von Läufern, die mich feiern und mit mir laufen. Man zeigt mir den den Weg auf der Straße von Oukaimeden. Von der Terrasse des CAF braust der Beifall herüber, dann biege ich ab, wieder hinunter auf die Wiese zum Zeltdorf. Ich habe gefinisht. 36:10 Stunden.

Nachbemerkung:

2012 musste ich den UTAT wegen extremem Kälteeinbruch bei km 68 beenden, bin dann tags drauf auf eigene Faust bis Imlil, km 88, von dort mit dem Auto zurück. 2013 zweiter Versuch, die Rennärztin  nahm mir die Startnummer ab, sagte meine Achillessehne sei gerissen. Ich werde wohl nie wieder laufen können. Heute habe ich den UTAT zwar im dritten Anlauf geschafft, doch ich bin zu nahe an die Grenze des für mich Machbaren gekommen.

 

Meine nächsten Termine in Marrokko:

17-24.11.  Trail de Tafraout   72 km    
17.-18.12  Trail Sahara Zagora 47 km
18.04.- 21.04 Eco Trail de Ouarzazate  70 km   
22.04.- 27.04 Trans Sahara Zagora Trail  250 km

 

 

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Informationen: Ultra Trail Atlas Toubkal (UTAT)
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