Ein kleines Jubiläum feiert La Palmas „Transvulcania“ 2025. In 15 Jahren hat sich der Transvulcania zur wohl renommiertesten, bekanntesten und auch größten Trailrunning-Veranstaltung der Kanarischen Inseln gemausert. 3.000 Runner aus aller Welt sind angemeldet, um einen der wohl optisch grandiosesten Streckenkurse unseres Planeten unter die Füße zu nehmen. Schon lange ausverkauft ist er in diesem Jahr und auch ich habe meinen Startplatz nur über die Warteliste bekommen.
Nomen est omen: Über und um zahlreiche Vulkane führen entlang des Fernwanderwegs GR 131, seiner Form wegen auch „El Bastón“, übersetzt: „Der Gehstock“, genannt, alle angebotenen Distanzen. In kompletter Länge zu bewältigen ist er beim Ultramarathon. Die Königsdistanz führt vom Faro an der Südspitze der Insel aus über die komplette Vulkankette der Cumbre Vieja, anschließend rund um die 9 km breite Caldera de Taburiente und vom höchsten Punkt, dem 2.427 Meter messenden Roque des los Muchachos hinab bis ans Meer bei Tazacorte und weiter nach Los Llanos. 72,5 km und knackige 4.735 Höhenmeter auf technisch anspruchsvollem Terrain kommen da zusammen.
Marathon und Halbmarathon bilden letztlich Teilstücke der Ultradistanz ab: Der Halbe zunächst das erste Teilstück über die Cumbre Vieja bis El Pilar, der Marathon ab dort 43,2 km lang den Parcours rund um die Caldera bis nach Tazacorte. 1.884 Meter geht es auch für die Marathonis hinauf, vor allem aber muskelcrashende 3.329 Meter hinunter.
Schon vor zwei Jahren, noch unter der Ägide des UTMB, lief ich hier den Marathon. Damals noch stand die Cumbre Vieja im Mittelpunkt des Marathonkurses. Seit letztem Jahr ist die Veranstaltung wieder „inselselbstverwaltet“ und deckt nunmehr den Teil des Ultra-Kurses ab, der mir vor zwei Jahren entgangen ist. Ein erneuter Start war für mich daher fast schon ein Muss.
Alle Wege führen für die Läufer nach Los Llanos, dem einwohnerreichsten Dorf im Herzen der Insel, auch wenn hier nicht gestartet wird und nur die Ultraläufer zum Finish einlaufen. Aber zur Laufmesse nahe dem Ortszentrum auf der Plaza Juan Pablo II muss ein jeder, schon um seine Startnummer abzuholen. Schon am Mittwoch öffnet das Messedorf seine Pforten. Sehr nett angelegt ist es mit zahllosen Holzhütten, wo man reichlich Gelegenheit hat, sein Laufequipment aufzustocken oder auch nur einfach zu bummeln und abzuhängen. Loungemusikberieselt und bei eitel Sonnenschein genieße ich bereits am Mittwoch das entspannte Ambiente. Ein paar Laufstöcke erstehe ich, denn die konnte ich im Handgepäck nicht mitnehmen. Nach dem Lauf werde ich sie auf der Insel deponieren. Fürs nächste Mal.
Einmal mehr beeindruckend ist das „Goody Bag“, das ich mit der Startnummer bekomme. Genau genommen ist es eine stabile Kiste, in der ich einen Hoody, ein Shirt, eine Schirmkappe, alles in stylishem Schwarz, sowie lokale Produkte wie Gofio, Salz und Mojo finde. Das erfreut das Läuferherz schon vor dem Lauf. Dass der Lauf mittlerweile so etwas wie ein „Kulturgut“ für die Palmeros ist, merkt man allenthalben, wenn man durch die Insel fährt. Immer wieder weisen große Plakate auf die Veranstaltung hin und das gesamte Zentrum von Los Llanos, insbesondere rund um die Plaza Espana, wird in eine „Feierarea“ verwandelt und selbst ein roter Teppich für den Zieleinlauf der Ultraläuferausgerollt.
Schon am Donnerstagabend wird das Event mit einem Laufspecial eröffnet: Dem Vertical Uphill. Die Herausforderung: Auf einer Distanz von gerade einmal 7,6 Kilometern sind gut 1.200 Höhenmeter bis zum Ziel am Torre de El Time zu bewältigen. Gestartet wird direkt auf der Strandpromenade von Tazacorte Puerto, dort, wo die mächtige Angustias-Schlucht von der Caldera kommend ins Meer ausläuft. Grandios ist die Kulisse des schwarzen Sandstrands, eingerahmt von den schier senkrecht emporsteigenden Wänden der Schlucht. Und eben eine dieser Wände, die nördliche, ist zum Auftakt des „Runs“ über einen steilen steinigen Wanderweg zu erklimmen.
Auf der Promenade ist alles gerichtet für das Event: mit Bühne, Leinwand, großem Startbogen, Fahnen. Die Sonne lacht, ein leichter Wind weht – hier ist das Wetter fast immer gut, selbst wenn der Rest der Insel in Wolken versinkt. Mit Trassierbändern ist der zwischen Strand und den Tischen der Strandcafes und -lokale entlangführende Parcours abgesperrt.
Um 17 Uhr geht es mit großem Bohei los. Gleich zwei Startmoderatoren sorgen musikuntermalt für die rechte Stimmung. Im 30-Sekunden-Takt werden die etwa 180 Starter Uhr einzeln auf die Strecke geschickt, die schnellsten zuletzt, angefeuert von reichlich Publikum in den Lokalen und am Eingang zur Steilwand. So dynamisch, wie die meisten Läufer das erste Teilstück entlang der Promenade angehen, so schnell ist damit Schluss, wenn sie die Wand erreichen und keuchend in den einsamen Höhen des GR 131 entschwinden. Via Leinwand können die Zurückgebliebenen nun ganz entspannt den Zieleinlauf hoch droben mitverfolgen. Die Letzten sind noch gar nicht gestartet, da haben die ersten der „Berggämsen“ schon ihr Ziel erreicht.
Nicht ganz erschließt sich mir, warum nicht nur die Ultraläufer, sondern auch die Marathonis am Laufsamstag so früh aus den Federn müssen. Schon um 3 Uhr klingelt mein Wecker, damit ich in Ruhe mein Gepäck checken, frühstücken und - Ihr wisst schon, was - kann. Schon gestern Abend beim Briefing im Auditorium des modernen Museo Arqueológico Benahoarita in Los Llanos durften wir vernehmen, auf welch üble Wetterverhältnisse wir uns am Lauftag einstellen sollten: Wolken, Wind, Regen, Kälte, in den Hochlagen gefühlt bis zum Gefrierpunkt gehend. So hatte ich mir das gar nicht vorgestellt. Doch noch war ich hoffnungsvoll: Nichts ist so unbeständig auf La Palma wie das Wetter und dessen Prognosen.
Noch ist alles ruhig draußen, als ich um kurz vor 4 Uhr mit meinem Cinquecento zum Zielort in Tazacorte Puerto rausche. Hier sammelt ein Shuttlebus, wie von vielen Stellen der Insel, die Teilnehmer auf, um sie zum Startpunkt in El Pilar zu bringen. Kaum will ich das Auto verlassen, stellt ein kräftiger Regenguss klar, dass die Prognose nicht von ungefähr kam.
Eine knappe Stunde zockelt der vollbesetzte Bus durch die Nacht, dann endet die Fahrt in El Pilar. Busse, LKWs und PKWs sind sich auf der engen Straße im Weg. Ein Bus nach dem anderen entlässt seine Läuferfracht.
Das inmitten dichten Kiefernwalds gelegene Refugio de El Pilar, schon auf 1.445 m üNN in der Inselmitte gelegen, ist auf La Palma eine überaus bekannte und beliebte Sommerfrische. Zahlreiche große überdachte Grillplätze, Tische und Bänke sind hier im Wald weiträumig verteilt und vor allem an heißen Sommertagen dicht bevölkert. Ein schöner und entspannter Ort, über den man auch den bekannten Wanderweg Ruta des Los Volcanes in Angriff nehmen kann. Und: Hier führt auch der GR 131 vorbei.
Von alledem sehe ich nur schemenhaft im Licht diverser Strahler etwas. Tiefste Nacht ist noch und hier im Wald ist sie noch ein wenig dunkler. Zahlreiche Pavillons sind aufgebaut, auf der Straße ein großer Startbogen und ein eingezäunter Startkorridor. Gleich bei der Ankunft werden an einem Tisch heißer Kakao und Kaffee ausgeschenkt – eine gute Idee angesichts der hier schon merklich kühleren Temperaturen. Ansonsten ist für die herumwimmelnden Läufer reichlich Platz im offenen Gelände. Das Gewimmel wird aber schnell zum Gedrängel unter den Pavillons, als der Himmel erneut seine Schleusen öffnet und sie nun eigentlich gar nicht mehr schließen will.
Gestartet wird in mehreren Blöcken, also nicht alle gemeinsam, was angesichts der limitierten Aufnahmekapazität der Wege gerade zu Beginn Sinn macht. Ich stelle fest, dass ich mit Block 7 ganz hinten bin und demgemäß beim ersten Start um 6 Uhr noch längst nicht dabei bin. Gestartet wird im Zehnminutentakt und ein jeder Block wird erst nach Pflichtgepäckkontrolle zum Startbogen vorgelassen. Wie so oft muss AC/DC herhalten, um die Läufer final nochmals anzuheizen. Aber: Es funktioniert immer.
Mir wird langsam kalt und auch meine Fotos vom Start der Glühwürmchenschwärme wollen nicht besser werden. Doch werden, warum auch immer, die Startgruppen 5 bis 7, zuletzt zusammengefasst, sodass gegen 6:40 Uhr dann endlich auch für mich der Countdown ertönt. Die ersten zweihundert Meter folgen wir der Straße, ehe wir auf einen Naturweg nordwärts abzweigen.
Die erste Etappe über 6,8 km zum Reventón-Pass ist eine vergleichsweise leichte. Der Pass liegt sogar etwas tiefer als El Pilar, aber es kommen im Auf und Ab doch knapp 150 positive Höhenmeter zusammen. Der relativ breite Weg ist weitgehend frei von Stolperfallen und daher auch in der Dunkelheit mit Kopflampe gut zu belaufen. Er führt durch einen dichten Wald aus Gagelbäumen und Baumheide über den Kamm der sogenannten Cumbre Nueva. Diese ist quasi das Bindeglied zwischen der vulkanreichen Cumbre Vieja und dem Bergkessel der Caldera de Taburiente.
Ein besonderes Naturschauspiel kann man hier bisweilen erleben, wenn niedrige Wolken von Osten gegen die Cumbres drücken und an der vergleichsweise niedrigeren Cumbre Nueva auf der Westseite wie ein Wasserfall herunter „fließen“ und sich dabei auflösen. Im Hier und Jetzt sind wir von Wolken allerdings komplett eingehüllt und dürfen diese Nähe anhand von leichtem Sprühregen auch unmittelbar spüren. Aber alles halb zu wild.
Gegen sieben Uhr setzt die Morgendämmerung ein und wir können mehr Details der Umgebung ausmachen. Aber nur der allernächsten. Die milchig graue Wolkensuppe ist auch dort das Einzige, was wir zu sehen bekommen, wo sich der Wald zur Linken lichtet und eigentlich einen freien Blick ins Aridane Tal tief unter uns und das Meer dahinter eröffnen würde. Zumindest lassen sich die teils riesigen Pfützen auf dem Weg jetzt besser einschätzen.
Wie aus dem Nichts tauchen die Baldachine des ersten Versorgungspostens im wolkenverhangenen Wald am Reventón-Pass (1.415 m üNN) auf. Ein willkommener Break. Schon hier wird ein üppiges Verpflegungssortiment geboten, das ich im Moment aber noch gar nicht so recht zu schätzen weiß. Darauf einstellen muss man sich allerdings, dass es auf den nächsten knapp fünfzehn Kilometern nichts geben wird und die anstehende Etappe mit 1.317 Höhenmetern im Plus zudem die steigungsreichste ist.
Durch verwunschenen Bergwald geht es weiter, nun allerdings auf schmaleren Pfaden. Wie Tentakeln mäandern bisweilen dünne Baumstämme dicht an dicht durch die Luft. Die Steigungen nehmen zu. Weiter oben trotzen zunehmend mächtige Kiefern, bisweilen skurril geformt, Wind und Wetter. Und auch dem Feuer, wie die meist schwarz eingefärbten Stämme signalisieren. Aber die Kanarenkiefer ist so robust, dass ihr so ein Waldbrand nichts anhaben kann.
Je höher ich komme, desto mehr bläst der Wind und jagt die Wolken durch die Luft. Fast mystisch heben sich die Silhouetten der Kiefern im Wolkennebel ab. Froh bin ich, unter meiner Regenjacke ein langes und ein kurzes Shirt zu tragen, sodass der kalte Wind mich nicht auskühlt. Auch die Wolkendusche nimmt kein Ende: Mal kaum spürbar in windgeschützten Passagen, dann wieder prasselnd dort, wo der Wind ungebremst blasen kann. Die größte technische Herausforderung bleiben die Pfützen, ansonsten ist der Weg recht gut zu belaufen, vor allem dort, wo er abflacht.
Für Momente erhasche ich zwischen den wirbelnden Wolkenschwaden einen etwas weiter reichenden Blick und bekomme den Hauch einer Vorstellung, wie schön die Landschaft sein muss. Mehr ist aber heute nicht drin und meine vage Hoffnung, dass sich die Wolkendecke in höheren Lagen lichten könnte, erfüllt sich nicht. Ganz im Gegenteil.
Zunehmender Fels entlang der Wegstrecke und ein steinigerer Pfad signalisieren das Erreichen der Hochlagen ab zweitausend Metern. Über einen zuletzt grob gepflasterten Weg erreiche ich kurz nach neun Uhr eine kleine, sich an den Hang duckende Steinhütte: Es ist das auf 2.040 m üNN gelegene unbewirtschaftete Refugio Punta de Los Roques. Dieses einfache Refugio ist derzeit die einzige Möglichkeit für GR 131-Wanderer, unterwegs nachts einen geschützten Unterschlupf zu finden. Auch sonst verlangt der GR 131 vom Wanderer ein Höchstmaß an Autonomie: Es gibt unterwegs nichts zu kaufen und Trinkwasser allenfalls in El Pilar.
Hinter dem Refugio windet sich der Pfad ein längeres Stück abwärts. Einerseits entspannend, zumal die Passage windgeschützt ist, anderseits wird die Laune durch die Gewissheit getrübt, das auch wieder aufsteigen zu müssen. Umso mehr pfeift mir wenig später wieder der Wind um die Ohren, jagen die Wolken über den Boden, auf dem sich in der immer karger werdenden Vegetation primär nur noch niedriges Buschwerk kauert.
Immer weiter und trotz Auf und Ab immer höher komme ich, immer heftiger wüten die Winde. Permanent muss ich meine Brille vom Regenfilm säubern, um zumindest den Boden vor meinen Füßen zu erkennen. Ein Wegweiser taucht auf: „Pico de la Nieve, 0,1 km“ besagt er. Nur ein Katzensprung wäre es von hier auf diesen 2.239 Meter hohen Aussichtsgipfel am Calderarand, ein wunderbarer Picknickplatz, den ich schon vom Wandern kenne und von dem man einen grandiosen Ausblick in die Caldera auf der einen und auf das tief unten glitzernde Meer auf der anderen Seite genießen kann.
Aber hoch zur Bergspitze mit dem Gipfelkreuz geht es jetzt nicht, wozu auch, sondern durch das höchst ungemütliche Wolkendickicht am Calderarand entlang weiter. Nicht einmal im Ansatz lässt sich erkennen, wo ich hier bin. Nur der über den Grat wehende heftige Sturm lässt erahnen, an welch ausgesetzter Stelle ich mich befinde. Und glücklich darf ich mich schätzen, wenn ab und zu Buschwerk oder Felsen den anbrandenden Wind bremsen. Als wunderbar, großartig, einmalig habe ich das Panorama in Erinnerung, das sich ab dem Pico de la Nieve auf dem Wanderweg vom und zum Roque de las Muchachos bietet und das ich heute beim Transvulcania auch laufend zu erleben hoffte. Aber nichts davon heute. Heute zeigt sich der Berg nur von seiner rauen, harten, menschenfeindlichen Seite. Ausgerechnet heute.
Es macht mir schon längst keinen Spaß mehr, mich durch diese unwirtliche Umgebung zu kämpfen, immer frustrierter und auch erschöpfter, permanent dem anpeitschenden Wind und Regen ausgesetzt, ohne Hoffnung auf Besserung. Ein paar den Wetterunbilden trotzende blühende Pflänzlein sind das einzige Nette am Weg. Mit dem 2.293 Meter hohen Pico de la Cruz erreiche ich den nächsten der kleinen Calderagipfel.
Zumindest kurzzeitige „Erlösung“ verheißt, als wir kurze Zeit darauf nach 21,7 km per Trassierband vom Rand der Caldera auf die in unmittelbarer Nähe vorbeiführende Bergstraße gelotst werden. Über diese lässt sich die Caldera und insbesondere der Roque de los Muchachos auch bequem und überaus kurvenreich per Auto erreichen. 11:30 Uhr ist es mittlerweile und hier ist – endlich – der ersehnte nächste Verpflegungsstopp platziert. Auch für die vielen Helfer ist dieser Platz alles andere als gemütlich, aber tapfer harren sie aus und versuchen sich und das Angebot vor dem anbrandenden Regen zu schützen. Mit Cola, Wassermelone und was ich sonst so in die Finger bekomme versuche ich mich ein wenig aufzurichten.
Eine eigentlich kurze Etappe ist die nächste, hinauf zum Roque de los Muchachos, dem 2.417 Meter hohen Dach La Palmas und höchsten Punkt der Caldera. Nochmals 307 Höhenmeter auf 4,2 Kilometern, das klingt nach einer lösbaren Aufgabe. Für mich ist sie fast unlösbar.
Eigentlich motiviert starte ich, aber mich an der Calderakante entlang bewegend bin ich im nun tosenden Regensturm binnen kürzester Zeit komplett durchnässt und vor allem auch durchgefroren. Ich tapse, fast nichts durch die Brille sehend, zitternd Schritt für Schritt voran über den teils aus Fels gepflasterten Weg. Jäh geht es zu meiner Linken bisweilen hinab in einen unsichtbaren Abgrund und so manche Böe zwingt mich, einzuhalten und mich festzuhalten. Meine der Eisregenpeitsche frei ausgesetzten Oberschenkel fühlen sich nur noch wie eisige Klumpen an, die mehr und mehr verhärten, in meinen Schuhen gluckst das Wasser, als wäre ich mit ihnen geschwommen.
Ich will nur noch weg hier, raus aus dieser Hölle, aber es gibt keinen schnellen Ausweg und keine Zuflucht: Ich muss da jetzt durch. Gedanklich völlig verdränge ich die Wahnsinnskulisse, die die wilde Hochgebirgslandschaft im Inneren der Caldera bei klarer Sicht hier eigentlich bietet, auch den theoretischen Blick auf die Observatorien, die sich wie Perlen einer Kette am Grat an einander reihen und La Palma zu einem der bedeutendsten astronomischen Spots der Welt machen. Nichts von alledem ist wahrnehmbar. Ich fühle mich wie in einer fremden Welt, auf einem arktischen Planeten, nicht wie auf La Palma.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, als ich nach einem letzten Anstieg total erschöpft den kleinen Gipfelparkplatz erreiche, fertig mit der Welt und vor allem mit mir selbst. Knapp 26 km liegen hinter mir und von hier begänne der legendäre lange Abstieg nach Puerto de Tazacorte, über 2.400 Höhenmeter downhill, vom Gipfel bis ans Meer. Aber nicht mehr mit mir. Nicht in der Lage und willens bin ich, noch einen Schritt mehr als nötig zu tun.
Von einer Helferin, bei der ich mich melde, werde ich sogleich in ein hier wartendes Auto verfrachtet, das mich wiederum zur etwas tiefer und geschützter liegenden Verpflegungsstelle bringt. Hier wartet schon ein kleinerer aufgeheizter Shuttlebus, in dem sich wärmefoliengewandet und bibbernd auch andere Läufer sammeln. Wie gut eine Lauforganisation ist, zeigt sich eben vor allem in kritischen Situationen. Und die ist hier hervorragend. Der kleine Bus fährt schließlich ein weiteres Stück hinab, wo wir in einem großen Bus umsteigen und schon bald in endlosen Serpentinen gen Tal heruntergefahren werden.
Natürlich spüre ich schon auch ein Stück Wehmut dabei, einen Lauf auf diese Weise zu beenden. Aber auch im Nachhinein weiß ich: Es gab in dieser Situation keine Alternative. Dennoch möchte ich Euch zumindest ein paar Eindrücke vermitteln, wie es sein könnte, wenn das Wetter mitspielt. Daher auch ein paar Bilder der Passage zwischen Pico de la Nieve und Roque de los Muchachos aus der Schönwetterbrille.
Es ist schon verrückt. Während hoch oben am Berg Sturm und eisiger Regen toben, empfängt mich im Ziel in Puerto de Tazacorte wohliger Sonnenschein und ein lauer Wind, als sei nichts gewesen und dies ein ganz normaler Frühlingstag auf der „Isla Bonita“. Aber eben auch das ist La Palma: Ein Mikrokosmos mit extremen Unterschieden in Landschaft wie in Klima und Wetter.
Unten angekommen bin ich schon wieder ganz im Reinen mit mir. Ich merke, wie schnell die Funktionskleidung im warmen Wind trocknet und ich innerlich – nicht ganz so schnell – auftaue. Und freue mich mit den Marathonis, die es dem Wetter zum Trotz bis ins Ziel geschafft und über die Strandpromenade mit erhobenen Armen und beifallsbegleitet unter dem Zielbogen einlaufen. Dazu gesellen sich die abgeklärteren Läufer des Ultras, die von hier aus die letzte Etappe durch den Barranco hinauf bis nach Los Llanos in Angriff nehmen.
Wenig später werde ich in den Medien lesen „La Transvulcania más dura de la historia“ – der härteste Transvulcania aller Zeiten. Und ich war dabei. Spätestens in diesem Moment ist mir klar: Das kann es auf La Palma nicht für mich gewesen sein. Am 9. Mai 2026 ist es wieder soweit und dann wird das Wetter garantiert fantastisch sein.
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06.05.23 | Den Vulkanen auf der Spur |
Klaus Sobirey |