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02.07.16 - Thüringen Ultra

Mein erster Stern

Fröttstädt liegt in der Nähe von Gotha, an der A4, am Fuße des Thüringer Waldes. Nie gehört? Fröttstädt ist ein Ortsteil der Landgemeinde Hörsel und hat 431 Einwohner (Stand 31.12.2014). Immer noch unbekannt?

Einmal im Jahr wird Fröttstädt zum Zentrum des Ultralaufsports: der Thüringen Ultra findet dort statt. 169 Voranmeldungen für die 100 km, 15 für die 2er Staffel, 20 für die 4er Staffel und stattliche 115 Anmeldungen für den, zum ersten Mal ausgeschriebenen, 100 Meilen Lauf bedeuten, dass sich an diesem Wochenende die Einwohnerzahl von Fröttstädt schlichtweg verdoppelt.

Kann das funktionieren? Es gibt kein Hotel, keine Gaststätte, wo sollen die vielen Menschen bleiben? Norbert und ich sind gespannt. Von Bekannten hören wir, dass man am besten vor Ort zeltet. Also rüsten wir unseren Bus kurzerhand mit Schlafsäcken aus und machen uns auf gen Osten. Meine Begeisterung für Camping hält sich normalerweise in Grenzen. Entsprechend skeptisch erreichen wir den kleinen Ort. Dort ist der Weg perfekt ausgeschildert, bis wir auf einen winzigen Weg stoßen. Bevor wir etwas sagen können, meint der dort platzierte Helfer sofort: „Ihr kommt zum Campen? Dann immer geradeaus.“ Wir folgen den Anweisungen und landen auf einer großen, frisch gemähten Streuobstwiese, die bereits von zahlreichen PKWs, Wohnmobilen, Wohnwagen und Zelten in Beschlag genommen ist. Es gibt noch einen netten Parkplatz zwischen anderen, die wohl ebenfalls im Auto übernachten wollen.

Erfreut stellen wir fest, dass Startnummernausgabe, Start, Ziel, Duschen und Toiletten nur wenige Meter entfernt sind. Auf einem überdachten Platz vor dem Dorfgemeinschaftshaus gibt es ab 18 Uhr die Pasta Party, am nächsten Morgen das Frühstück, ab nachmittags die Siegerehrung und später die Übertragung des Fußballeuropameisterschafts-Viertelfinale Deutschland - Italien. Die Stimmung der Anwesenden könnte nicht besser sein; man trifft Freunde und Bekannte, kann die Füße hochlegen und das wunderbare Wetter genießen. Auffallend für mich ist, dass hier niemand ein Marathon-Finishershirt trägt. Dagegen sind die Shirts vom Thüringen Ultra der Vorjahre omnipräsent. Es gibt wohl viele Wiederholungstäter, was auch an den Sternen an der Brust ersichtlich ist. Denn für jedes Finish bekommt man einen Stern mehr. Selbstverständlich werden auch andere Ultralangstrecken-Shirts spazieren getragen.

Da die Läufer des 100 Meilen Laufs von 16 bis 22 Uhr zu jeder vollen Stunde starten können, sind einige schon im Wettkampfmodus. Die Läufer müssen ihre Startzeit so wählen, dass sie km 70 zwischen 4 und 7 Uhr am nächsten Morgen passieren. Dort trifft die 100 Meilen Strecke auf die 100 km Strecke. Das heißt also, zu jeder vollen Stunde treffen sich Läufer und Zuschauer unter dem Startbanner. Es gibt ein kurzes Briefing und dann werden die „Ultra“ Ultras mit Applaus auf die Strecke geschickt. Mit jedem Start werden die Gruppen kleiner, da die Schnellen natürlich erst am Schluss loslaufen.

 

 
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Schnell wird es ruhig auf dem Platz, die Nacht ist kurz genug. Ab 2 Uhr 30 gibt es Frühstück. Zu moderaten Preisen kann man sich mit Brötchen und Kaffee oder Tee auf die bevorstehende Belastung vorbereiten. So präpariert kommt langsam Leben in die müden Gestalten. Norbert und ich sind gut eingeübt, ist es doch gar nicht so einfach im engen Auto die Kleidung in der richtigen Reihenfolge anzuziehen ohne wichtiges Zubehör wie Uhr und Rucksack zu vergessen. Und das im stockdunkeln. Um 4 Uhr erfolgt der Start. „Seid Ihr soweit? - Dann kommt gesund wieder!“ Wir zählen Rückwärts und los geht es.

Nach ungefähr 50 Metern steht die Zeitmessung für die Startzeit. Dafür hat jeder Starter einen Transponder fürs Handgelenk bekommen. Unterwegs gibt es dann noch Zwischenzeitmessungen, so dass auch die Statistiker, zu denen Läufer ja gerne gehören, auf ihre Kosten kommen. Trotz der Dunkelheit ist das Laufen kein Problem. Im Ort sind die Straßenlaternen ausreichend und auf den Feldern gewöhnt man sich schnell an die Verhältnisse. Bis wir zum ersten Mal den Wald erreichen, graut der Morgen. Trotzdem ist alle paar Meter der Weg mit hellen Lampen versehen. Eine eigene Stirnlampe ist auf der 100 km Strecke nicht notwendig.

Schnell wird es hell. In Sondra bei km 10 steht die erste Getränkestation. Der eine oder andere Läufer wechselt bereits die Kleidung, denn es ist relativ warm. Wir haben auch schon die ersten Steigungen hinter uns und so bin ich nicht die einzige, die bergauf geht. Meine Befürchtung, dass ich die meiste Zeit allein unterwegs sein werde, bestätigt sich nicht. Ich finde mit Elke und Alfred sogar nette Gesprächspartner.

 

 
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Wir verlassen den Wald und eine weite Wiesenlandschaft liegt vor uns. Im Hintergrund erhebt sich der markante Große Inselsberg. Zwischen den Örtchen Seebach und Schmerbach überqueren wir die B88. Ein Helfer sichert den Übergang. Auf der anderen Straßenseite erwartet uns bereits die 2. VP bei km 16. Ich bitte einen Helfer, mir die Mütze aus dem Rucksack zu holen. Ich werde von einer Horde Mücken verfolgt und brauche Schutz von oben. Das reichhaltige Essensangebot lasse ich vorerst noch liegen.

Mitten im Wald an der Talsperre „Thal“ hat die Feuerwehr einen Großeinsatz, der augenscheinlich aber nichts mit dem Lauf zu tun hat. Wir biegen scharf links. Die erste längere Steigung trennt die Staffelläufer vom Feld der Einzelläufer. Während die einen gemächlichen Schrittes Höhe gewinnen, fliegen die anderen förmlich den Berg hinauf. Nette Worte werden gewechselt. Der Anstieg nimmt trotzdem kein Ende. Dann sind wir endlich oben; schnell geht es wieder hinunter. Vor Ruhla bei km 21 werden wir von einem Moderator begrüßt, er sucht anhand der Startnummern die Namen der Läufer und spricht uns persönlich an. An der VP lege ich ein erstes Päuschen ein. Es gibt Brühe und Cola, dazu diverse belegte Brote mit Wurst oder Käse. Alles ist appetitlich angerichtet. Da greift man gerne zu.

Es geht weiter bergauf und bergab. Geschotterte Wege wechseln mit weichem Waldboden oder ausgewaschenen Rinnen, so wie man es auch vom Rennsteiglauf kennt. Es geht ein kurzes Stück an einer wenig befahrenen Straße entlang. Wir verlassen die Straße und kommen auf den ersten richtigen Singletrail. Was für die Fahrradbegleiter eine Zumutung darstellt, ist für den Läufer reines Vergnügen. Es geht leicht bergab, Wurzeln und kleine Steine sind keine Hindernisse. Schon von weitem kann ich Applaus vernehmen. Der Trail knickt scharf links auf einen Parkplatz und genau in dieser Kurve stehen Zuschauer. Das macht Laune. Auf dem Parkplatz Glasbachwiese bei km 27 befindet sich die vierte VP, eine Zwischenzeitnahme und es wird zum ersten Mal die Vierer Staffel gewechselt. Ich schnappe mir einen Becher Brühe, ein belegtes Brot und gönne mir eine Auszeit auf einer Bierbank. Die Glasbachwiese müsste ich eigentlich vom Rennsteiglauf her kennen, aber heute sieht es hier ganz anders aus.

 

 
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Pfeile weisen auf einen geschotterten Wanderweg. Ich bewundere die üppige Vegetation und die tolle Aussicht. Dann geht es erneut in den Wald. Die nächsten Kilometer gestalten sich kurzweilig. Immer wieder kommen Läufer von hinten, man wechselt ein paar Worte und muntert sich gegenseitig auf. Mich haben auch schon einige 100 Meilen Läufer überholt. Ich habe große Hochachtung vor diesen Läufern. Sie laufen bereits 90 km und sind immer noch schneller als ich.

Kurz vor Brotterode liegt die nächste VP bei km 33. Ein 100 Meilen Läufer berichtet, dass er wohl bei der nächsten VP aussteigen wird. Mit schlimmen Schmerzen in der Leiste sind die restlichen 60 km nicht mehr machbar. Schade, aber so etwas kann immer passieren und schließlich steht die Gesundheit an erster Stelle. Es geht über die L1127 und zwischen blühenden Wiesen wieder bergauf. Hinter einer Kurve wartet eine Fotografin. Das gibt bestimmt ein tolles Bild, die Aussicht ist wunderbar.

Die VP bei km 38 liegt direkt an der Sommerrodelbahn. Hier führt auch der Rennsteiglauf vorbei. Aus der 1992 gebauten Bahn ist mittlerweile der „Funpark Kleiner Inselsberg“ entstanden. Zahlreiche Attraktionen locken Jung und Alt, um hier einen schönen Tag zu verbringen. Heute sind die Ultras aber unter sich, denn das Wetter ist mittlerweile ungemütlich geworden. Gerade als wir ankommen, fängt es an zu regnen. Ein Staffelläufer kommt vorbei und fragt nach einem Regenschutz. Leider ist man dafür an der VP nicht ausgerüstet. Eine Helferin meint aber, sie hätte etwas im Auto und hilft gerne aus.

Ich habe ebenfalls einen Umhang im Rucksack und eine andere Helferin unterstützt mich beim Überziehen. Nach ausgiebiger Stärkung an der VP macht der Regen nichts mehr aus. Der Weg führt wieder in den Wald und das grüne Dach hält sowieso die meisten Regentropfen ab. Es ist schon 10 Uhr und ich bin bei km 39. Bei km 42 haben wir mit knappen 800 m den höchsten Punkt der Strecke erreicht. Auf dem nun folgenden Bergabstück kann ich vorne die Silhouette eines mir bekannten Läufers erkennen. Friedbert hat mir schon Anfang des Jahres berichtet, dass er vorhat, beim Thüringen Ultra die 100 Meilen in Angriff zu nehmen. Sein aufwendiges Training hat sich offensichtlich gelohnt. Er ist locker unterwegs und erkundigt sich an der VP nach dem Kilometerstand. Wir sind bei km 43; er hat also schon mehr als 100 km hinter sich und sieht noch gut aus - Kompliment.

Ab km 47 geht es plötzlich steil bergab. Der steinige Weg ist kein Vergnügen. Mal flacher mal steiler, verlieren wir rasant an Höhenmetern. Als ich schon nicht mehr kann, geht es scharf rechts auf den asphaltierten Mommelstein-Radweg. Auf der Trasse der ehemaligen Bahnstrecke Schmalkalden - Brotterode wurde im Juni 2003 dieser schöne Radweg eröffnet. Die schroffe Bebauung rechts und links ist mittlerweile überwuchert und man glaubt sich in einer tiefen Schlucht. Wir unterqueren eine hohe Brücke, bevor sich die Landschaft wieder öffnet. Hier liegt auch die nächste VP hinter km 49. Ich muss mich setzen, denn das lange Bergablaufen fordert seinen Tribut.

 

 
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Anlaufen gestaltet sich daher etwas schwierig. Das moderate Gefälle hilft mir erneut, einen runden Schritt zu finden. Entgegenkommende Radler müssen ganz schön schnaufen. Mittlerweile hat es wieder zu regnen begonnen. Ich habe keine Lust nach der Jacke zu kramen, so schlimm sind die paar Tropfen nun auch wieder nicht. Ich bewundere die schöne immer wieder wechselnde Gegend. Auf Grund des Gefälles komme ich gut voran. Weite Wiesen und Waldpassagen wechseln sich ständig ab. Der Asphalt ist dabei eine Wohltat für die Füße. Es geht über eine Brücke, die rechts und links von hohen Metallzäunen gesäumt ist. Dahinter liegt der alte 86 m lange, beleuchtete Hundsrücktunnel (Kleinschmalkalden-Tunnel). Obwohl es im Tunnel furchtbar zieht, ist er eine willkommene Abwechslung.

Ich überhole Karl, der mit seiner Conni auf den 100 Meilen unterwegs ist. Wir werden uns auf den nächsten Kilometern noch öfter begegnen. Zwischen den Bäumen kann ich Hohleborn unter uns liegen sehen. Bald geht es scharf links und der Sportplatz von Floh-Seligenthal (km 54,5) ist erreicht. Hier soll der 2. Staffelwechsel sein. Die Staffeln sind wohl alle schon durch. Ich muss mir nun eine längere Pause gönnen. Meine Beine sind krampfig und ich bin platt. Volker tröstet mich aber: „ Jetzt noch ein paar Kilometer, dann folgt nur noch ein Marathon, und das ist ja Kurzstrecke.“ Obwohl sich das komisch anhört, bin ich jetzt wieder motiviert. Wir verlassen das Sportgelände über die Rückseite auf einem Wiesenweg. Nach dem langen Bergablaufen, gönne ich mir nun eine längere Gehpause. Der Weg ist flach und so wechsle ich später Gehen mit Laufen ab.

Tatsächlich bin ich nun nahezu alleine unterwegs. Das macht aber nichts aus. Der Weg ist perfekt ausgeschildert. Jede Kreuzung ist markiert und bei Abzweigen erfolgt zur Kontrolle sofort wieder eine Markierung. Auch wenn es längere Zeit geradeaus geht, kommt immer wieder der gelbe Pfeil auf dem Boden. So bin ich nie unsicher. Ab und zu kommt ein Läufer von hinten. Man feuert sich gegenseitig an. Das macht Spaß. Es geht wieder bergauf. An einer besonders zugigen Stelle ist die nächste VP bei km 59. Die Helfer frieren. Ich greife mir einen Becher und ein belegtes Brot. Weil ich auf dem Streckenplan gesehen hatte, dass erst in 9 km die nächste VP kommt, lasse ich mir meine Flasche mit Wasser füllen. Es ist zwar nicht heiß, aber sicher ist sicher.

Es geht weiter bergauf. Ich bin in Gedanken versunken, als vor mir plötzlich ein Helfer auftaucht. Es gibt ja doch noch eine Getränkestation! Der Posten klärt auf, dass er normalerweise aktiv am Lauf teilnimmt, aber das diesmal nicht kann. Wegen der Hitzeschlacht im letzten Jahr hat er beschlossen, hier auf dem Gipfel der Steigung nochmal für Getränkenachschub zu sorgen. Ich nehme Apfelsaftschorle und bedanke mich herzlich. Der Weg scheint kein Ende zu nehmen. Ich frage den nächsten Läufer, wann es denn endlich wieder bergab gehen würde. Er meint, gleich gehe es hinunter zur Ebertswiese und dann ganz lange bergab. Nanu, die Ebertswiese kenne ich vom Rennsteiglauf. Da geht es hinterher bergauf. Hoffentlich ist das kein Missverständnis.

Dann liegt sie aber doch unter mir, die Ebertswiese. Hier ist beim Rennsteiglauf Halbzeit und ziemlich viel Halligalli. Heute liegt sie friedlich da, ein üppig blühendes Naturschutzgebiet. Im sumpfigen Gelände entspringt die Spitter, die kurz unterhalb der Ebertswiese im Spitterfall, den mit 19 Metern höchsten natürliche Wasserfall in Thüringen bildet. Der Läufer von vorhin ist bereits unten. Er ruft mir zu, dass hier ein scharfer Abzweig nach links wäre. Schon vorher kann ich drei gelbe Ausrufezeichen auf dem Waldboden erkennen. Die Pfeile zeigen unmissverständlich nach links. Der Weg ist kaum zu erkennen. Der Läufer lässt mir den Vortritt.

Was jetzt folgt, ist Trailrunning in Reinkultur. Links fließt die Spitter ihrem Fall entgegen, rechts geht es sanft bergauf. Kurz denke ich an die Radbegleiter. Das ist für sie sicher nicht so lustig. Ich lasse mir aber die Laune nicht verderben. Leider ist der Spitterfall zu weit weg um ihn zu sehen, dafür kann ich mich ganz auf den Weg konzentrieren, denn aufpassen muss man schon. Ein paar Mal knicke ich leicht um, was, bei vermutlich angeschwollenen Füßen, recht schmerzhaft ist. Richtig passiert ist mir, Gott sei Dank, nichts.

 

 
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Irgendwann ist aber auch der schönste Trail zu Ende. Dieser mündet auf einen gemütlichen Waldweg, der immer noch leicht bergab führt. Die Spitter begleitet uns bald rechts, bald links. Obwohl es wieder regnet, ist es traumhaft schön. Ich bin froh, um meine zusätzliche Wasserration. Bei meinem langsamen Tempo zieht sich die Strecke. Wir kommen an ein paar Fischteichen vorbei, die sich natürlich in die Landschaft einfügen. Die Seerosen schicken sich eben an zu blühen. Was von weitem wie ein Freibad aussieht, entpuppt sich als Kläranlage. Wir erreichen Tambach-Dietharz bei km 68. Der Sprecher und einige Helfer warten schon auf mich. Ich werde namentlich begrüßt. Mein Augenmerk gilt allerdings mehr dem Verpflegungsangebot. Ich greife mir einen Becher Bier und leere ihn in einem Zug. Der Helfer ist erschrocken und ruft: „Das ist mit Alkohol!“ „Das will ich hoffen“, kläre ich ihn auf. Ich lasse es mir gutgehen; ein Bänkchen um die Ecke bietet Gelegenheit, die Füße auszuruhen.

Ich genieße die unwirkliche Atmosphäre. Wir befinden uns mitten im Ort und die Leute sind auf dem Weg zum Einkaufen, Essen oder auf Besuch. Der Sprecher spricht jeden an und macht Stimmung. Ich finde das witzig, aber die Menschen scheinen irritiert. Am liebsten würde ich den Sprecher umarmen, um ihm für sein Engagement zu danken. Lasse das aber lieber, da ich doch ziemlich verschwitzt bin. Weiter geht es in den Ort hinein.

Plötzlich zeigen die bekannten Pfeile scharf links. Ich vergewissere mich nochmals, ob das stimmt. Ja, da kommt gleich der nächste Pfeil. Es geht steilst bergauf. Hier zu wohnen ist ja eine Strafe. Auf halber Höhe bin ich wieder unsicher. Da kommen von hinten schon die nächsten Läufer und ich bin beruhigt. Oben verlassen wir den Ort und es scheint flach zu sein. Meine Beine meinen aber, dass es weiterhin bergauf gehen würde. Also ist wieder ein Mix von Gehen und Laufen angesagt.

Die Straße ist wenig befahren und läuft bis zum Horizont. Das „Neue Haus“ oder auch „Vierpfennighaus“ kommt in Sicht. Hier stand in Vorzeiten ein altes Forsthaus, wo man 4 Pfennig Wegzoll erhob. Aus dem Forsthaus entstand ein Gasthaus, daraus wurde zu DDR Zeiten ein Jugendlager und nach der Wende eine Flüchtlingsunterkunft. Seit dem letzten Jahr baut der gemeinnützige Verein Impact ein christliches Freizeit- und Erholungszentrum vor allem für Jugendliche. Wir biegen vorher nach links und beschreiben einen weiten Bogen um das Gelände.

Hinter km 71 kommt die nächste VP in Sicht. Die drei Helfer sind ein eingespieltes Team. Während mich zwei mit allem versorgen, was man so braucht, sucht der dritte meinen Namen auf der Liste. Gleich bemerkt er, dass ich zum ersten Mal dabei bin und lädt mich für das nächste Jahr ein. Wir halten ein Schwätzchen, bis ein 100 Meilen Läufer eintrifft. Andreas tun die Füße (und vielleicht noch einiges andere) weh. Ich ziehe meine Mütze vor Hochachtung und überlasse ihn der netten Betreuung durch die Helfer.

Es geht nun steil bergab. Das ist allerdings kein Vergnügen, denn der Weg ist steinig. Mehrmals knicke ich um. Ich versuche es langsamer, das ist auch nicht besser. Der Weg wird flacher und die Steine weniger; jetzt geht es wieder. Eine kurze Matschpassage unterbricht nur kurz meinen Lauf. Von links kommt die Leina, die hier ein wunderbares Tal geschaffen hat. Die Natur explodiert förmlich und erschafft massenhaft Grün. Finsterbergen liegt hinter hohen Bäumen versteckt. Ein Sägewerk und eine kleine Industrieansiedlung lassen wir seitlich liegen, dann geht es über die K9. Hier muss man ein bisschen aufpassen, denn es kommt doch hin und wieder ein schnelles Auto. Auf der anderen Seite geht es in den Wald hinein und wieder den Berg hinauf.

Hohe Fichten und der Duft nach frischen Nadeln erinnern mich an den Schwarzwald. Nach langem Aufstieg kann ich oben Häuser erkennen. Doch unser Weg zweigt vorher ab. Ich bin leicht enttäuscht, es könnte doch langsam wieder eine VP auftauchen. Dann sehe ich oberhalb eine Wasserrutsche. Das hätte ich hier am wenigsten erwartet. Obwohl das Bad beheizt ist, ist heute wenig los. Neben dem Freibad gibt es hier noch einen kleinen Freizeitpark mit der Parkeisenbahn "Flinker Lothi" und eine Bungalowanlage. Für mich ist allerdings die VP bei km 76 wichtiger. Endlich kann ich mich wieder stärken.

Weiter geht es über einen schmalen Wanderweg. Dann über die Straße auf den nächsten Waldweg, diesmal bergab. Oh je, schon wieder Steine. Für meine Füße ist das gar nicht gut. Es geht wellig weiter. Die Untergründe wechseln, ich bin müde. Erneut geht es steil bergab. Teilweise steinig, teilweise von tiefen Rinnen durchzogen, führt der Weg hinunter. Alle paar Meter ist eine Abflussrinne aus Beton quer zum Weg eingelassen. Das hört sich schlimmer an, als es ist. Man muss sich nur höllisch konzentrieren.

Unten lande ich auf einem Parkplatz. Die gelben Pfeile weisen mich rechts, auf der L1026 entlang und dann nach links auf einen netten Wanderweg. Wir kommen nach Friedrichroda. Die Laufgruppe 05 Friedrichroda hat hier hinter km 80 die Versorgung der Läufer übernommen. Es gibt einen kleinen Thron für 100 km Läufer und einen für 100 Meilen Läufer. Wer will, kann sich hier standesgemäß fotografieren lassen. Es gibt zur Komplettverpflegung zusätzlich Kaffee. Ich ruhe mich kurz aus. Prompt kommt auch die Sonne heraus. Das hätte, von mir aus, nicht sein müssen.

Schnell wird es warm. Der Weg führt erneut in den Wald. Ich spüre, dass es unter den Bäumen länger kühl bleibt. Wir kommen an der Marienglashöhle vorbei. Es handelt sich hierbei um ein ehemaliges Gipsbergwerk, das 1903 stillgelegt wurde und nun für Besucher geöffnet ist. Bereits 1778 wurde die Kristallgrotte in der Marienglashöhle entdeckt, die als eine der schönsten und größten in Europa gilt. Hier sind Gipskristalle von bis zu 90 cm Länge zu sehen, die unter anderem zum Schmücken von Marienbildern verwendet wurden, wodurch auch der Name Marienglas entstand. In der unteren Sohle befindet sich der Höhlensee mit reizvollen Wasserspiegelungen.

Bis auf ein kurzes Stück führt der Weg nun im Wald entlang. Teilweise ist es ziemlich matschig. In Tabarz, mitten an einer fiesen Steigung im Wohngebiet, liegt eine private Verpflegungsstelle bei km 84. Gerne nehme ich das Angebot an. Der Tisch ist reich gedeckt. Mit bestem Dank laufe ich weiter. Von der Straße zweigen wir auf den Walking Pfad. Dieser bringt uns ans Ortsende zu einem gepflegten Park. Wir laufen in einer Schleife drum herum und gelangen auf der Rückseite wieder in den Wald. Es geht erneut bergauf.

Nach einer Weile meine ich, Stimmen zu hören. Ich blicke mich aufmerksam um und erkenne unter mir einen Klettergarten. Hier sind diverse Besucher dabei, sich von Baum zu Baum zu schwingen. Für mich und meine Höhenangst wäre das nichts. Ich genieße lieber die fantastische Aussicht auf Tabarz und seine Umgebung im Sonnenschein. Mist, vor mir liegt nochmal ein richtiges Matschloch, keine Chance es zu umgehen. Wir kommen dem Ort immer näher. Plötzlich stehe ich vor einer steinernen Treppe. Die Pfeile zeigen eindeutig hoch. Also muss ich da hinauf. Erstaunlicherweise geht es sogar ganz gut. Oben stehe ich auf einer kleinen Grasfläche umgeben von Zäunen. Keine Spur von einem Weg. Bin ich falsch? Nein, die Pfeile sind eindeutig. Ich schlage die einzige mögliche Richtung ein, und komme auf eine Anliegerstraße. Ich überquere die L1024 und sehe die VP bereits auf der anderen Straßenseite.

Eigentlich bin ich weder hungrig noch durstig, sondern nur froh, wieder einmal stehen bleiben zu können. Ein Läufer sitzt bereits und hat die Füße hoch gelegt. Er wird heute seinen 10. Stern bekommen und ist entsprechend locker. Ich freue mich für ihn. Es geht nun auf einen feinen Wiesentrail. Man sieht, dass hier schon viele vor uns gelaufen sind. Unten liegt hügeliges Wiesenland. Hinter der Weide zeigt der Pfeil scharf rechts, den Weg hinunter. Einmal über die Felder und wir erreichen Tabarz, das wir nun fast einmal sternförmig umrundet haben. Jetzt am späten Nachmittag sind die Straßen verwaist. Hin und wieder haben die Bewohner Tische mit Getränken und Wasserwannen bereitgestellt. Ich brauche nichts; wenn es aber heiß wäre, so wie letztes Jahr, sähe das ganz anders aus.

Pfeile zeigen links, und wir verlassen den Ort. Zunächst geht es auf einem geschotterten Feldweg, dann auf einem geteerten Radweg entlang. Leider hat meine Uhr schon vor Kilometern den Geist aufgegeben. Ich schätze mal, dass ich bereits gute 90 km geschafft habe. Der Weg zieht sich endlos und kein Ende ist in Sicht. Dann werden wir wieder auf einen schmalen Feldweg geleitet. Dieser führt unter der B88 hindurch. Der Weg wird steinig und geht leicht bergauf. Mir fällt es schwer, weiter zu laufen. Ich will jetzt ins Ziel. Weit kann es nicht mehr sein. Ein Läufer kommt von hinten. Ich frage ihn, wie weit es denn noch sei. Er meint, von da vorne, wo sich der nächste Läufer befindet, sind es noch knapp 500 m bis zur VP. Oh je, das ist aber noch ein ganzes Stück.

 

 
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Von einer Anhöhe hat man jetzt eine gute Fernsicht. In der Ferne kann ich Windräder erkennen. Sind wir nicht heute Morgen auch an solchen Windrädern vorbeigekommen? Auf jeden Fall kann ich die VP nun sehen. Das müsste mindestens bei km 95 sein. Als ich ankomme, trifft mich der Schlag: km 92 steht da geschrieben. Wie soll ich die letzten 8 km nur schaffen? Die Damen sind gut gelaunt und versuchen mich wieder aufzubauen. Da kommt aber schon der nächste Läufer, um den sie sich kümmern müssen. Ich trolle mich.

Der Weg kommt mir jetzt unendlich lang vor. Immerhin kann ich vor mir in einiger Entfernung weitere Läufer erkennen. Ein 100 Meilen Läufer joggt locker an mir vorbei. Das gibt mir wieder Auftrieb. Wenn der noch läuft, kann ich das auch. Wir überqueren die L1027. Wieder ein gerader, nicht enden wollender Weg. Von Ferne höre ich Musik. Ein Schild kündigt die VP bei km 95 an. Hier ist ein Radiosprecher dabei, jeden ankommenden Läufer schon von weitem anzusagen und zu motivieren. Beim Näherkommen höre ich, wie er mich begrüßt. Sein Sohn wohnt wohl im gleichen Ort wie ich. Das ist ja ein seltener Zufall. Chearleader stehen nur für mich Spalier. Ging es mir gerade noch schlecht? Davon ist jetzt nichts mehr zu spüren. Noch eine Stärkung an der VP.

Es geht nun über die L1025. Noch lange kann ich die Musik hören und dem Ansager lauschen. Hinter einem Parkplatz geht es eine kleine Böschung hinauf. Dort sitzt eine einsame Radlerin und wartet wohl auf ihren Läufer. Sie spendet mir Beifall. Dann geht es in ein großes Industriegebiet und eine endlose Straße entlang. Ich muss abwechselnd gehen und laufen. Die Schmerzen in meinem rechten Fuß sind mörderisch.

Ein kleines unscheinbares Schild sagt, dass 97 km geschafft sind. Ich freue mich tierisch. Es geht wieder auf die Felder und unter der A4 hindurch. Der Hörselgauer Carnevalsclub feiert 60 jähriges Bestehen. An der VP bei km 98 haben auch die Läufer etwas davon. Essen und Trinken brauche ich nicht, mentale Unterstützung ist dagegen äußerst willkommen. Vielen Dank ihr Lieben.

In Hörselgau ist die Fröttstädter Straße leer. Die Leute bereiten sich wohl auf das Fußballspiel vor. Eine einsame Wasserwanne zeigt mir, dass trotzdem mit den Läufern gelitten wird. Km 99. Kann es sein, dass die Kilometer immer länger werden? Ein letztes kleines Gefälle bringt uns unter der Bahnlinie hindurch, auf der anderen Seite geht es die letzte Steigung hinauf. Wir passieren das Fröttstädter Ortsschild, nochmal über die Straße, da steht ein Helfer, der über Funk die Startnummern der ankommenden Läufer weiter gibt. In diesem Moment begreife ich, dass ich das Vorhaben 100 km Thüringen Ultra tatsächlich bewältigt habe.

Die kleine Pfarrgasse entlang laufe ich wie auf Wolken. Mein einziger Gedanke ist: geschafft, geschafft, geschafft! Das Marathontor kommt in Sicht. Eine letzte Kurve und ich bin im Zielkanal. Der Einlauf ist der erbrachten Leistung angemessen und mir wird ganz feierlich Zumute. Zuerst bekomme ich von zwei süßen Mädels meine Medaille, dann einen Zettel mit meinem Ergebnis samt Zwischenzeiten. Mein Transponder wird abgenommen und warmer Tee gereicht. Ralf, der kurz vor mir im Ziel ist, beglückwünscht mich und meint, wir könnten direkt auf unsere Urkunde warten. Es gibt noch das Finishershirt mit dem ersten Stern, das Zielbier und, weil die Finishersuppe aus ist, Bratwurst vom Grill.

 

 

Der Thüringen Ultra ist etwas ganz Besonderes. An oberster Stelle steht die familiäre Atmosphäre. Durch das Campieren vor Ort ist man automatisch Teil einer verschworenen Gemeinschaft. Auf der Strecke herrscht keine Rivalität, nur Hochachtung für die Leistung des Anderen. Die Helfer sind sich ihrer Rolle als wichtiger Teil des Laufes bewusst und werden so von den Läufern auch wahrgenommen. Die Strecke ist wunderbar und auf der gesamten Länge perfekt ausgeschildert.

Ich dachte vorher, der Thüringen Ultra wird wie der Rennsteiglauf, nur länger. Das ist nicht so. Er ist natürlich länger, aber auch viel härter. Durch die Trailpassagen ist man automatisch langsamer, was sich insgesamt auf die Laufzeit auswirkt. Es kostet also, selbst wenn die Strecke gleich lang wäre, mehr Zeit und ist somit anstrengender. Trotzdem würde ich sagen, dass der Lauf bei guter Vorbereitung auch für den Durchschnittsläufer machbar ist. Er ist definitiv nicht gefährlich, die Limits sind großzügig und die Verpflegung super. Man kämpft hier nicht mit den äußeren Umständen, sondern nur mit dem eigenen Schweinehund.

 

Informationen: Thüringen Ultra
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