Im März 2015 saßen ein paar mutige Trailrunning-Enthusiasten in geselliger Runde zusammen und gründeten das Team Gamsbock. Zusammen mit den Bürgermeistern der Gemeinden Lam, Arrach und Lohberg gab es eine verrückte Idee zu besprechen. Einen Lauf über die U-förmige Bergkette mit den meisten Eintausendern des Bayerischen Waldes in der Region Lamer Winkel. Aus der Idee wurde ernst und wenig später im Mai feierte der U.Trail Lamer Winkel bereits seine Premiere.
10 Jahre später hat sich der U.TLW längst etabliert und gehört zu den Kult-Veranstaltungen im Trailrunning in Deutschland. Bereits nach der zweiten Durchführung hat man beschlossen, die Läufe nur mehr alle zwei Jahre durchzuführen. Bedingt durch Coronaverschiebungen, findet der U.TLW heuer somit zum 6. Mal statt. Geschadet hat der Zweijahresrhythmus dem Event nicht, ganz im Gegenteil. Am 1. Dezember 2024 um 18 Uhr war Anmeldestart für den U.TLW 2025, fünfeinhalb Stunden später waren alle 450 Startplätze der Königsdisziplin, dem „König vom Bayerwald,“ komplett ausgebucht. Vereinzelte Startplätze konnte man mit Glück dann nur mehr über die Startplatzbörse ergattern.
Neben dem Ultratrail mit 54 km und 2700 Höhenmetern gibt es noch die Optionen Osser-Riese mit 23 km und 1200 Höhenmeter und zum Jubiläum ganz neu den Rookie-Trail für Einsteiger ab 16 Jahren. Die 11 Kilometer lange Strecke mit 550 Höhenmetern bietet ebenfalls einige technisch anspruchsvolle Abschnitte. Insgesamt können somit heuer erstmals über 1000 Trailrunnerinnen und Trailrunner am U.TLW teilnehmen.
Los geht’s aber immer bereits am Freitag im Seepark in Arrach mit der Startnummernausgabe. Johannes Schmid vom Orga-Team führt uns bei einer Podiumsdiskussion und einem Medientalk durchs Programm. Abschließend findet die Begrüßung mit den Bürgermeistern der Gemeinden Lam, Arrach und Lohberg und das Rennbriefing durch Markus Mingo statt. Der Lokalmatador und U.TLW-Mitbegründer wird heuer wie schon bei der Premiere selbst an der Startlinie stehen und zählt zu den s Top-Favoriten.
Ich war bei den ersten drei Auflagen dabei, seither sind sieben Jahre vergangen, Entsprechend älter geworden, muss ich die Zeitlimits heuer ernsthaft im Auge behalten. Zielschluss ist um 19.00 Uhr, das bedeutet, man hat 11 Stunden Zeit. Und man ist diesbezüglich streng im Woid.
Es gibt zwei weitere Cut-off-Stellen. Der Verpflegungspunkt Eck nach knapp 9 km muss in eineinhalb Stunden passiert werden. Das sollte kein Problem sein. Anders sieht das am VP Scheiben (Km 37) aus, der muss nach 7 Stunden erreicht werden, sonst ist man raus. Im PDF des Athleten-Guides gibt es auch einen Zeitplan mit Durchlaufzeiten an diversen Punkten der Strecke für schnelle und langsame Läufer. Langsam ist dabei genau auf eine Endzeit von 11 Stunden durchgeplant. Ich hab mir den Plan ausgedruckt und streng im Blick. Schau mer mal, was drin ist für mich.
Ein wolkenloser blauer Himmel und angenehme 18 Grad empfangen uns am Samstag in der Früh zum Start des König vom Bayerwald auf dem Marktplatz von Lam. Die Thürnsteiner Blaskapelle verkürzt uns bis zum Rennbeginn um 8 Uhr etwas die Zeit. Es gibt natürlich auch eine Pflichtausrüstung, aber man ist hier eher großzügig. Aufgrund der Wetteraussichten macht es auch wenig Sinn, das Mitführen einer Regen- oder Windjacke streng zu kontrollieren. Dringend vorgeschrieben ist aber bei den zu erwartenden hohen Temperaturen, ein Liter Getränk und natürlich auch ein Mobiltelefon, um sich bei einem Ausstieg abmelden zu können.
Die Startfreigabe um Punkt 8 Uhr geht erstmal ohne große Hektik vonstatten. Verantwortlich dafür ist die Blaskapelle, die die ersten Meter voraus marschiert und erst als sie die Strecke verlassen, wird der neutralisierte Start freigegeben. 15 Minuten nach uns starten dann auch schon die Rookies. Nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Osser-Riese können nicht von den angenehmen Morgentemperaturen profitieren, sie dürfen erst in der Mittagshitze ran.
Am Ende des Marktplatzes verlassen wir nach 300 Metern auch schon den Ort. Sehr angenehm führt die Strecke erstmal einen Kilometer leicht abwärts und noch flach weiter, so kann man schön warm werden. Nach überqueren des Weißen Regen geht es in den Wald und auf die Trails. Der erste Anstieg auf dem Woidbauern-Steig ist technisch nicht allzu schwer, beinhaltet aber auch einige steilere Abschnitte. Auf halben Weg nach Eck wird es wieder etwas flacher. Durch die Höfe von Vorderöd ist sogar ein kurzes Gefällstück über Asphalt dabei. Gut laufbar führt uns eine Forststraße wellig weiter.
Nach knapp 9 km erreichen wir unsere erste Verpflegungsstelle am Ecker Sattel auf 843 m Höhe. Die Cut-Off-Zeit von 1:30 Std. ist kein Problem. Wir werden mit viel Beifall empfangen. Aufgrund der guten Erreichbarkeit ist hier ein gewaltiger Zuschauer-Hotspot. Wichtig ist jetzt für alle, die Getränke aufzufüllen, erst wieder in 15 Kilometern am Gipfel des Großen Arber kann aufgetankt werden.
Nach Eck geht es kurz abwärts und schon befinden wir uns auf einem der schönsten Abschnitte des Goldsteigs. Mit einer Länge von 660 Kilometern ist der Goldsteig der längste zertifizierte Fernwanderweg in Deutschland. Die Goldsteig-Etappe N13 nennt sich auch 8-Tausender Tour und ist zugleich auch ein Abschnitt unseres Trails. Bis zum Gipfel des Arber könnten wir jetzt praktisch auch seinen permanent ausgeschilderten, markanten goldgelben Zeichen folgen, um auf der Strecke zu bleiben. Ich versuche, alle Gipfel auszumachen, das ist gar nicht so leicht.
Ich empfinde den Einstieg als sehr angenehm, über Wurzeln und Steine geht es nicht sonderlich steil und immer wieder mit laufbaren Abschnitten aufwärts. Dazu befinden wir uns im Wald, wo noch angenehme Temperaturen herrschen. Unser erster Tausender ist der Mühlriegel auf 1080 m. Hätte ich nicht das grüne Hinweisschild im Wald gesehen, wäre ich unbemerkt daran vorbeigelaufen. Die letzten Meter empor auf den Gipfel und zum Kreuz liegen nämlich nicht direkt auf unserem Weg.
Unser weiterer Weg zum Ödriegel bewegt sich etwa auf gleichem Niveau, erst als wir uns dem Gipfel nähern, wird es deutlich steiler. Von unten kann man bereits aus einiger Entfernung die Felsformation am Gipfel ausmachen. Wir müssen etwas aufsteigen, um zu den drei Zinnen der markanten Felsen zu gelangen. Ich weiche etwas nach links von unserem Pfad ab, hier hat man einen wunderbaren Ausblick auf den Lamer Winkel und zum Osser. Auf dem sonnigen Plateau kann man schon die steigenden Plus-Grade verspüren.
Über größtenteils wurzelige und steinige Trails geht es meist wellig weiter, zwischendrin warten auch einige kleine Klettereinheiten auf uns. Das „40 to go“ Schild weist uns auf die noch vor uns liegenden Kilometer hin. Insgesamt ist die Strecke wirklich hervorragend ausgeschildert, überwiegend mit neongelben Punkten am Boden oder Fels. Oft ist auch über dem Goldsteig-Tafeln die rote permanent-Beschilderung mit dem Magic U. auszumachen.
Wildromantisch geht es auf schmalen Trails durch hohes Gras auf dem Kammweg weiter, verstärkt jetzt auch auf längeren sonnigen Abschnitten. Je weiter wir uns dem Schwarzeck nähern, umso anspruchsvoller wird die Route wieder. Schon in einiger Entfernung kann ich Kuhglocken und Anfeuerungsrufe vernehmen. An einer Klettereinheit hinauf zum Gipfel des Schwarzeck haben sich einige Schlachtenbummler eingefunden, sich zwischen die Felsen gequetscht und feuern uns aus Leibeskräften an. Diesmal dürfen wir ganz rauf bis zum Gipfel, den ein wunderschönes, poliertes Metallkreuz ziert, das glänzend in der Sonne steht.
Anspruchsvoll geht es wieder runter vom Gipfel. Ein richtig schönes Intervall-Training absolviert gerade Oliver aus Großbritannien. Zum wiederholten Mal flitzt er bereits an mir vorbei, um sich dann einige hundert Meter später an der Seite stehend wieder überholen zu lassen. Die Aufklärung für die ungewöhnlich Taktik: Er wartet immer wieder auf seinen Bruder Alexander, der seinem Tempo nicht folgen kann und bereits etwas schwächelt.
Nächster Tausender wäre der Reischflecksattel, ich kann weder ein Hinweisschild ausmachen noch ein Gipfelkreuz erkennen, es liegt nicht direkt am Weg. Ein Steig führt uns auf das Gipfelplateau des Heugstatt. Bis in die 50er Jahre wurde die Wiese als Almweide für Jungvieh genutzt. Durch einen Mix aus hohem Gras, abgestorbenen Baumresten, jungen Bergfichten und hüfthohen Heidelbeersträuchern ziehen wir über die Freifläche.
Über den 1285 m hoch gelegenen flachen Gipfel des Enzian folgen wir weiter dem Kammweg. Unsere nächsten Etappenziele, die Gipfel des Kleinen und Großen Arber mit seinen markanten Radarstationen haben wir schon mal in unserem Blickfeld. Mittlerweile sind auch einige Wolken aufgezogen und es weht gelegentlich auch ein ganz lreichtes Lüftchen, was unser Vorwärtskommen relativ angenehm gestaltet.
Ein kurzer Abschnitt unseres Weges ist mit Holzplanken ausgelegt, vermutlich befinden wir uns hier in einem Feuchtgebiet, durch die Trockenheit der letzten Monate, ist in den Graswiesen aber nur mehr wenig Nass übriggeblieben. Auf den Gipfel des Kleinen Arber (1384 m) dürfen wir wieder etwas aufsteigen. Das Gipfelkreuz liegt von unserem Weg aus kommend, ziemlich gut in den Bäumen versteckt. Erst kurz vor der finalen Kletterpartie bekommen wir es zu Gesicht. Oliver hat seinen Lauf auch mal wieder gestoppt und wartet angespannt auf seinen Bruder.
Über viele Felsen und Wurzeln geht es recht anspruchsvoll wieder abwärts. Immer mit Blick auf die Gipfelanlagen des Großen Arber. Die beiden ehemaligen, kugelförmigen Abhöranlagen, die zu Zeiten des kalten Krieges von der NATO installiert wurden, liegen auch in unmittelbarer Nähe des Gipfelkreuzes.
Nach 22 km erreichen wir die Chamer Hütte. An einem Brunnen kann man Trinkwasser nachfüllen, was uns beim Briefing extra nahegelegt wurde. Aber mir stehen da gerade zu viele an und mein Trinkvorrat ist noch nicht ganz gelehrt, so verwerfe ich die Möglichkeit. Zudem zeigt mir meine Marschtabelle gerade mal eine Zeitguthaben von 15 Minuten an. Also hurry up. Auf einem Schotterweg geht es erstmal noch ein Stück um den Gipfel herum. Das bietet mir wieder die Möglichkeit für einige Laufmeter und vielleicht auch um die eine oder andere Minute gut zu machen.
Durch eine von Baumsterben geprägte Landschaft, beginnt unser Aufstieg zum Großen Arber auf einem ruppigen Pfad. Wenig später kommen wir an der Zufahrtsstraße, die auf den Gipfel führt, wieder raus aus dem Gelände. Aber bereits nach 500 Metern auf der kommoden Schotterpiste verlassen wir diese schon wieder. Steil geht es auf einem mit vielen Granitstufen abgestützten Hang weiter, fast auf direktem Weg nach oben. Der Gipfel des Großen Arber liegt auf 1456 m. Nur ein relativ bescheidenes Holzkreuz ziert den höchsten Punkt des Kine vom Bayerischen Wald, so wird der Große Arber auch gerne genannt und natürlich ist er auch Namensgeber des Ultra Trails.
Insgesamt hat der Große Arber sogar 4 Gipfel. Den Hauptgipfel mit Gipfelkreuz, den Bodenmaiser Riegel, den Kleinen Seeriegel und den Großen Seeriegel. So verteilen sich die zahlreichen Besucher auch auf den unterschiedlichen Felsformation im Gipfelbereich. Jedes Jahr besuchen ihn mehr als 500.000 Gäste, davon 300.000 in der Wintersaison.
Unangenehm steil führt uns der Arberweg wieder runter vom höchsten Punkt. Nach der Bergstation der Gondelbahn wartet nach 24,5 km vor der Arberschutzhütte unsere zweite Verpflegungsstelle. Mein Zeitguthaben ist aufgebraucht, aber ich liege noch genau in meinem Soll. Immerhin haben wir auch schon 1450 Höhenmeter hinter uns. Ich benötige erstmal eine ausgiebige Verpflegungs- und Getränkepause. Das Angebot ist üppig und auch deftig. U.a. stehen Wurst, Käse, Weißbrot und verschiedene Obstsorten zur Auswahl. Bei den vielen Sorten Kuchen gibt es sogar die Möglichkeit unter vegan oder glutenfrei zu wählen. Natürlich stehen Gels und Riegel ebenfalls im Angebot.
Gerne wäre ich noch etwas sitzengeblieben, aber ich muss weiter …mein Zeitplan. Die 8-Tausender Tour ist am Arber beendet, aber natürlich nicht unser Trail. Jetzt geht’s erstmal lange owie. Vor uns liegen 800 negative Höhenmeter in einem Rutsch. Auf einer brettlebenen Naturstraße geht es zunächst los. Nach anderthalb Kilometer werden wir nach links in den Wald geleitet. Jetzt ist es wieder Konzentration angesagt beim rasanten Downhill, der Schotterweg ist doch deutlich ruppiger und man muss wieder etwas mehr auf den Untergrund achten. Bis zum Kleinen Arbersee sind es gut 4 km, ich kann bis auf einen kurzen Trailabschnitt vor dem Arbersee zügig durchlaufen.
Bei der dritten Auflage des U.TLW 2018 ging es im Uhrzeigersinn noch fast komplett um den See, heute streifen wir ihn nur für 200 Meter an seinem Nordufer. Seine Besonderheit sind drei schwimmenden Inseln. Als der See 1880 aufgestaut wurde, lösten sich die Moordecken vom Seeboden ab und die schwimmenden Inseln entstanden. Sie werden durch dickes Wurzelwerk zusammengehalten und können sich frei im See bewegen.
Zwei Mädels schließen von hinten auf mich auf. Ihr Tempo ist gut, so versuche ich dranzubleiben. Auf einem groben und steinigen Naturweg geht es weiter bergab. Ich finde ihn ziemlich unangenehm im Laufschritt zu bewältigen. Um nicht mal an einem Stein hängen zu bleiben, muss ich die Füße höher anheben, als mir lieb ist. Das kostet natürlich viel mehr Kraft. Ein ums andere Mal gerate ich so bei meiner Verfolgung ins Stolpern und vermeide gerade noch einen Sturz, was mich einige Flucher ausstoßen lässt.
Auf halben Weg vom Arbersee führt unsere Strecke an den Sollerbach, dem wir bis ganz nach unten folgen. Zu gerne würde ich einmal den einen Meter hinabsteigen und mir eine Mütze Wasser genehmigen, aber ich möchte auch meinen Lauf gerade nicht unterbrechen und an den Mädels dranbleiben. Den tiefsten Punkt unseres Downhills erreichen wir nach 32,5 km. Einen Kilometer führt uns ein Weg an der Weißer Regen entlang schwach bergan, ehe wir nach überqueren einer kleinen Kreisstraße zum Parkplatz an der Reischbrücke gelangen.
Wegen der hohen Temperaturen wurde hier eine zusätzliche Wasserstelle eingerichtet. Es gibt aber ausnahmslos nur Wasser. Zum Trinken und Nachfüllen und über den Kopf mit einem Schwamm. Auf dem 9 km langen Downhill habe ich immerhin wieder eine halbe Stunde gut machen können. Eine knappe Stunde bis zum Cut-off in Scheiben müsste doch eigentlich reichen. Laut Plan liegt dieser bei Kilometer 36. Die Helferin an der Station meint zu uns: Das schafft ihr locker, das Schlimmste ist vorbei.
Nach einer kurzen steilen Rampe verläuft der weitere Anstieg relativ gleichmäßig und unspektakulär. Aber laufbar ist die durchgängige Steigung für mich nicht mehr, so zieht sich der Kurs dahin und die Zeit verrinnt. Auf meiner Uhr sind die 36 km längst durch, aber Scheiben noch lange nicht in Sichtweite. Jetzt wird es zeitmäßig für mich doch nochmal eng. Eine lange Gerade am Waldrand entlang bietet als Abwechslung wieder einen schönen Fernblick auf den Großen Arber.
Als ich zeitlich schon fast mit dem Erreichen des Cut-offs abgeschlossen habe, sehe ich nach mittlerweile schon fast 38 km Rennleiter Johannes in etwas Entfernung stehen. Er feuert mich nochmal an und erinnert mich an das Zeitlimit. Nach überqueren der Zeitmessung und der Scheibenstraße komme ich am Verpflegungsstand am Wanderparkplatz Scheibensattel. an. Hier haben sich gerade mehrere Läuferinnen und Läufer versammelt, wovon bestimmt einige ihren Lauf abbrechen und auf einen Rücktransport nach Lam warten. Johannes kommt mir gleich hinterher und meint: ich bin 30 Sekunden über der Zeit. Wenn ich will, darf ich aber weiterlaufen. Ok, ich lasse mich nicht lange betteln. Ein Gel und zwei Becher Cola und weg bin ich wieder, bevor er es sich noch anders überlegt.
Nachdem der Cut geschafft ist, bin ich irgendwie wohl nicht mehr richtig konzentriert und verpasse die Abzweigung nach links, Richtung Zwercheck. Hundert Meter später stehe ich an einer Gabelung ohne Streckenmarkierung. Bisher war eine Orientierung per GPX-Track nicht nötig, so habe ich ihn nicht benützt. Ich muss erst das Menü meines GPS durchblättern, um zu erkennen, dass ich falsch bin. Während ich kehrt mache, kommt mir auch schon eine junge Frau entgegen und begleitet mich zurück auf den richtigen Abzweig.
Unser nächster Aufstieg führt uns auf den Kamm des Künischen Gebirges zum Zwercheck auf 1333 m Höhe. Auf dem Bergrücken verläuft die Grenze zwischen Bayern und Böhmen. Bevor es ernst wird, dürfen wir aber noch für 500 Meter einer Forststraße folgen. Ich werde immer noch von dem Mädchen begleitet, das mich vorhin zurückholen sollte. Noch ein paar weitere Mitläuferinnen und -läufer haben sich kurz nach mir auf den Weg gemacht und liegen nach meiner Eskapade jetzt vor mir. Direkt vor mir läuft Ingo, wir sind uns heute auch schon öfters begegnet. Er wird ebenfalls von einer jungen Läuferin ohne Startnummer begleitet. Da wir beiden, gerade die letzten auf der Strecke sind, hege ich die Befürchtung, dass man uns bereits Besenläufer an die Seite gestellt hat. Viel später, klärt mich Ingo auf, dass es seine Töchter sind. Sie sind bereits am Vormittag den Rookie-Trail gelaufen und begleiten jetzt den Papa ab Scheiben bis ins Ziel. Das lob ich mir, so brauchen wir uns über den Nachwuchs keine Sorgen machen.
Stark verwurzelte und verblockte Pfade machen den steilen Aufstieg zu einer Herausforderung. Ich bin aber bei weitem nicht der Einzige, der sich hier hochquält. An einem Felsriegel mit Gipfelkreuz ist der einen Kilometer lange Aufstieg über den Zwerchecker Steig beendet. Ich habe viel Kraft gelassen und bin jetzt wieder über meinem Marschtempo. Über den weitflächigen, abgerundeten Gipfel laufen wir an weiß-blauen Grenzstangen entlang. Der Weg führt durch niedriges Buschwerk und ist sehr steinig und ruppig. Etwa einen Kilometer ziehen wir am Grenzkamm entlang. Östlich liegt der Böhmerwald, wie wir, rechts von den Stangen, somit statten wir wohl gerade Tschechien einen Besuch ab.
Leicht abwärts passieren wir das Naturkino Zwercheck. Auf den 20 nummerierten Logenplätzen hat man einen großartigen Überblick auf Arber, Osser und den gesamten Lamer Winkel. Ich würde jetzt allzu gerne auf einer der Holzbänke Platz nehmen und mir eine Pause gönnen, aber die Idee streicht mir mein Zeitenplan. Kurz darauf geht’s auch schon wieder runter vom Gipfelplateau.
Bis zum Einstieg in den Ossersteig liegen nun etwa 5 km leicht abfallend auf einer Schotterstraße vor uns. Normalerweise eine gute Möglichkeit, wieder Zeit gut zu machen, aber meine Beine wollen gerade partout nicht mehr wirklich laufen. Mit nur sporadischen Laufeinsätzen kann ich nix gut machen. Vor dem Aufstieg zum Osser wurde noch eine weitere Wasserstelle eingerichtet. Als ich dort ankomme, müsste ich laut Zeitplan bereits auf dem Gipfel des Osser sein. Das Zeitlimit von 11 Stunden ist somit in weite Ferne gerückt, bzw. praktisch unerreichbar. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken hier die Segel zu streichen. Die zwei Mädels von der Wasserstation sind davon nicht so begeistert und motivieren mit weiterzulaufen. Dann soll es wohl so sein.
Über zwei Kilometer zieht sich der Ossersteig auf wurzeligen und steinigen Pfaden nach oben. Der Aufstieg ist anfangs nicht übermäßig steil oder besonders schwierig, erst zum Gipfel hin fordert der immer felsiger werdende Steig erhöhte Aufmerksamkeit. Die letzten Meter unterhalb des Gipfels ähneln beinahe alpinen Verhältnissen, inklusive Seilversicherung. Eine Helferin steht hier oben und bietet uns ein Wasserdusche aus einem Kanister an. Ingo und seine Mädels vor mir, nehmen das gerne an. Kurz müssen wir noch die felsige Gipfelregion des Großen Osser durchqueren, dann dürfen wir wieder ein paar Meter absteigen, um zur Bergwachthütte zu gelangen, wo die 4. VP auf uns wartet. Hier haben sich gerade wieder einige Mitstreiter eingefunden, scheinbar gedenken auch welche ihr Rennen hier abzubrechen. Wir sind alle spät dran, aber Getränke und Speisen sind noch zu haben. Bierbänke und -tische sind aber bereits auf einem LKW verstaut, somit bleibt mir nur ein Rastplatz im Gras.
Ich benötige dringend eine kleine Pause, unterdessen werde ich von einem Helfer schon gefragt, ob ich noch weiterlaufen möchte, es wären noch Plätze im Kleinbus frei. Ich bin jetzt überrumpelt und benötige etwas Bedenkzeit, aber wirklich ernsthaft habe ich es jetzt nicht mehr vor. So mache ich mich auch bald wieder auf den Weg, bevor der Helfer wieder zurückkommt und ich es mir doch noch anders überlege.
Die kleine Pause und Stärkung haben mir gutgetan, es läuft jetzt wieder besser. Bevor es richtig Abwärts geht, dürfen wir unterhalb des Gipfels des Kleinen Osser noch einige Klettereinheiten einlegen. Auf einem anspruchsvollen Pfad über armdicke Wurzeln und mannshohe Felsen geht es noch mehrmals rauf und runter.
Etwas durchatmen können wir auf der Osserwiese, bis in die 50er Jahre wurden Jungrinder und Stiere auf diese Freifläche getrieben. Nach dem Ende der Waldweide wurden viele dieser Plätze aufgeforstet oder wuchsen über Jahre hinweg zu. Im Rahmen einer Landschaftspflegeaktion wurde der Baumbestand aber wieder entfernt. So können wir uns heute auf einem wunderschönen Trail durch Borstgras und Heidekraut schlängeln. Der letzte Abschnitt unseres Downhills wird nochmal richtig heftig, auf einer groben Schotterpiste geht es streng bergab.
Nach zwei Kilometer Straße werde ich schon erwartet, ein junger Mann begleitet mich abseits der Straße bis zum Streckenabschnitt Tromsö. Übersetzen würde ich das mit „Spielplatz für Steinböcke“. Nein, nicht wirklich, aber ich kenne den Abschnitt und freue mich auf das, was jetzt folgt. Der jugendliche Helfer nimmt mir erstmal die Stöcke ab, damit ich besser die Felsen hochkraxeln kann. Ja, normalerweise hängt hier ein Seil herunter und man kann sich am Felsen hochhangeln. Ich bin spät dran, daher hat man das heute schon abgebaut.
Furios geht es weiter, ich muss mich durch Felswände quetschen, sie übersteigen und auch wieder runterkraxeln und auf fußbreiten Trails auf und ab balancieren. Da ist wirklich Vorsicht geboten. Das wahre Vorbild dieses spektakulären Trailrunning Freak-Show liegt im norwegischen Tromsø, so deren Schreibweise. In der Fjordlandschaft nördlich des Polarkreises, findet eines der härtesten und abenteuerlichsten Trailrennen der Welt statt. Veranstalter sind keine Geringeren als Kilian Jornet und Emelie Forsberg.
In Anlehnung an dieses Rennen hat man diesen Abschnitt Tromsö getauft, der zwar eine Nummer kleiner als das Original ist, aber mindestens genauso viel Spaß bereitet. Fußbreite Pfade auf wunderbar weichen Waldböden wechseln sich ab mit kurzen, ausgesetzten Graten und immer an diesen fabelhaften, fast vollkommen von Moos bewachsen grünen Felsbrocken vorbei. Nur langsam komme ich voran, ich möchte dieses aufregende Felsenensemble auch richtig aufsaugen. Zudem könnte ein Fehltritt natürlich auch fatal sein. Es geht zwar nie allzu weit runter, aber es würde vermutlich trotzdem schlecht ausgehen. Aber ich habe Zeit, zur Hälfte des Bayerwald-Tromsö ist meine Sollzeit abgelaufen, was soll ich mir noch Stress machen.
Heute habe ich die wundersame Welt der grünen Felsen ganz für mich alleine und kann sie ausgiebig genießen und auch fotografieren. Niemand ist vor und nach mir zu sehen und auch nicht zu hören. Einen Kollegen weiß ich noch hinter mir, so ist mir auch der Besenläufer noch nicht auf den Fersen. Zu verdanken haben wir diesen Hochgenuss im Übrigen Max, dem Vorstand vom Team Gamsbock. Er hat diese fast schon in Vergessenheit geratenen und oftmals bereits zugewachsen Pfade vor einigen Jahren in Erinnerung gerufen. Um sie auch beim U.TLW in die Strecke integrieren zu dürfen, mussten zwanzig Waldbauern ihr Okay geben. Danke Max, für dieses großartige Highlight im Namen aller Trailrunnerinnen und Trailrunner.
Nach der Wallfahrtskapelle Maria Hilf beginnt der fast nahtlose Übergang in den „Holy Trail“, sinnigerweise liegt dieser genau oberhalb des Lamer Ortsteils Himmelreich. Großartig unterscheidet er sich nicht von Tromsö, die Felsen sind vielleicht etwas weniger und kleiner und zwischendrin stehen mehr Fichten. Eine davon ist geschmückt wie ein Weihnachtsbaum, mittlerweile ist er auch schon legendär. Dieser wird im Übrigen nicht vom Veranstalter extra für den Lauf hergerichtet, sondern er steht hier immer in voller Pracht, weil er von einem Unbekannten regelmäßig gepflegt wird. Wenig später bin am Ende von Tromsö und dem Holy Trail, insgesamt drei Kilometer Trailvergnügen toujours. Was für ein grandioses Finale einer eh schon Begeisternden U.TLW-Runde.
Eine Wiese führt uns bis oberhalb des Ortsanfangs von Lam, von hier kann man noch einmal von unten einen Blick auf das gesamt magic U. werfen. Anderthalb Kilometer führen noch sanft abwärts bis auf dem Marktplatz. Der Zielbogen ist schon abgebaut, vor mir auf der Bühne findet bereits die Siegerehrung statt und das Marktplatzfest ist im vollen Gange, so überschreite ich ziemlich unbemerkt von einem Offiziellen die Ziellinie. Hinter der Bühne versuche ich irgendwo ein Getränk aufzutreiben. Der Verpflegungsstand im Zielbereich ist ebenfalls bereits abgebaut. Ich war einfach 40 Minuten zu lange unterwegs. Aber der Herrscher über die Leerkästen hat noch ein Radler in der Hinterhand für mich.
Ein paar Minuten vor mir ist Ingo eingetroffen, mit seinen Töchtern und Frau sitzt er am Trottoir. Da geselle ich mich doch gerne dazu. Es gibt viel zu erzählen und wir freuen uns gemeinsam, trotz unseres Zeitrückstandes zum Cut-off und dem damit verbundenen mutmaßlichen DNF das Ziel laufend erreicht zu haben. Wir gehören immerhin auch zu den ältesten im Starterfeld.
Unterbrochen wird unsere Unterhaltung von einem Telefonanruf auf ein Mobiltelefon seiner Tochter. Ingo und natürlich auch ich werden von der Zeitmessung und der Orga vermisst, wir haben uns nicht gemeldet. Natürlich haben wir nicht im Entferntesten daran gedacht, uns bei irgendwem abzumelden, nachdem wir ja die Strecke komplett absolviert haben und auch durch das Ziel gelaufen sind. Nur halt ein paar Minuten nach dem Zeitlimit. Am Telefon kann alles zur Zufriedenheit geklärt werden.
Spät am Abend im Hotel werfe ich noch einen Blick auf die Ergebnisliste und traue kaum meinen Augen. Vermutlich aufgrund der hohen Temperaturen oder was auch immer, hat man alle die über 11 Stunden benötigten, einschließlich mir, als letzten gewerteten, mit genauer Endzeit, heuer erstmals in die Wertung aufgenommen. Somit findet eine fantastische Veranstaltung, letzten Endes auch für mich noch einen großartigen Abschluss.
Von knapp über 400 Starterinnen und Startern beim Ultra Trail, haben sich heuer fast 50 ein DNF eingehandelt. Mit dem König vom Bayerwald ist nicht zum Spaßen.