Schon seit jeher hat das Engadin einen besonderen Klang. Dass dieses immerhin 80 km lange Hochtal in der wahrlich tälerreichen Schweiz so heraussticht, ist wohl kein Zufall, hat die Natur hier doch vor allem im oberen Teil eine besonders ausgeprägte Bilderbuchlandschaft geschaffen. Zumindest ein wenig abfärben dürfte natürlich auch der „Glamour“ des Nobelorts St. Moritz als Kapitale des Tales.
Nicht nur Wintersportler, Wandersleut´ und „Geldige“ haben das Engadin als Revier entdeckt, sondern auch die Trail- und Bergläufer. Beim Engadiner Sommerlauf durch die Seenlandschaft des Oberengadins etwa habe ich mich selbst schon von der Schönheit des Tales überzeugen dürfen und beim Free Fall Vertical am Piz Nair einen Eindruck von der das Tal umrahmenden eindrucksvollen Berglandschaft gewinnen können.
Das im Talboden bereits zwischen 1.600 und 1.800 Meter hoch gelegene Oberengadin ist auch Heimat einer weiteren, seit nunmehr fünf Jahren bestehenden Laufveranstaltung: des Engadin Ultra Trails. Vier Distanzen haben die Veranstalter im Angebot. Beim EUT102 über ebenso viele Kilometer sammelt man im Auf und Ab der das Tal umschließenden Berge stolze 5.677 positive Höhenmeter. Knackig ist auch der EUT53 über 53,3 km mit 2.639 Höhenmetern. Gemütlicher wird es beim ET23, der auf 22,5 km lediglich 1.054 Höhenmeter abverlangt. Und der ET16 über 16,3 km mit 791 Höhenmetern ist aufgrund großzügigen Zeitlimits auch für „Wanderer“ geöffnet.
Gestartet werden die Läufe zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, das Ziel ist jedoch immer dasselbe: Das Dorf Samedan, etwa 10 km südlich von St. Moritz und dort die Promulin-Arena. Auch die Streckenführung kann man auf einen gemeinsamen Nenner bringen, denn die kürzeren Läufe sind jeweils Teilstücke der längeren Läufe.
Für mich wird die Wahl hier nicht zur Qual. Denn bei der Frage, welche Distanz auf Basis meiner aktuellen läuferischen Fähigkeiten maximal viel Bergpanorama verspricht, lande ich unweigerlich beim ET23. Und der startet in einem 700 Seelen-Dorf mit dem zumindest für uns gewöhnungsbedürften Namen La Punt Chamues-ch.
Mein erster Anlaufpunkt am Samstagmorgen ist das Schulhaus von La Punt bzw. das hier an einer Wiese positionierte Zelt. Im Zelt bekomme ich meine Startnummer und den Zeitmesschip; ein nettes Teilnehmershirt gibt es obendrauf. Danach suche ich vor allem eines: Schatten. Zum Glück gibt es ein paar größere Bäume hier. Zwar ist es erst 10 Uhr, aber bereits überaus heiß und zudem schwül. Sehr angenehm ist da auch, dass man sich im Zelt kühles Wasser zapfen kann.
Langsam füllt sich das Gelände. Mit fast 270 Anmeldungen gegenüber 700 overall steht der ET23 in der Teilnehmergunst an erster Stelle. Der Zeiger rückt auf 11 Uhr vor und das Läuferfeld verlagert sich langsam von der Wiese auf die Straße, wo ein großer Startbogen und die nicht zu überhörende Stimme des Startmoderators signalisiert, wo es eigentlich los geht.
11:11 Uhr ist der offizielle Startzeitpunkt und als ich morriconische Westernklänge höre, weiß ich, es ist soweit. Ein Pistolenknall erlöst die wartende Läuferschar. Die Straße gerade hinunter geht es dem Ortszentrum entgegen. Wir queren den das Dorf durchschneidenden, lichtblau schimmernden Inn und die Durchgangsstraße und finden uns dann auf der Albula Passstraße wieder. Diese verbindet La Punt mit Bergün und damit das Engadin mit dem Albulatal. Auf der bergan führenden Passstraße werden wir sogleich konditionell erstmals geprüft. Und bei dieser Prüfung schneide ich gar nicht gut ab.
Der Anstieg setzt sich auch fort, als wir im Dorfteil Arvins von der Passstraße auf den Fernwanderweg Via Engiadina abzweigen. Dieser erschließt mit einer Länge von 160 Kilometern das gesamte Engadin. Auf einem zu Beginn breiten und sich dann zu einem Pfad verengenden Naturweg geht es die nächsten Kilometer immer geradeaus am bewaldeten Hang entlang. Weiter und weiter geht es zunächst hinauf. Auf dem Streckenplan sah dieser „Zacken“ eigentlich nur ganz klein aus. Etwas Erholung verspricht ein kurzer Downhill, aber schon wartet der nächste kleine Zacken auf uns. Ab und an öffnet der Wald seinen Vorhang und bietet einen Panoramablick über das weite Grün des Engadiner Talbodens und die bewaldeten Berghänge auf der anderen Talseite.
Aus der Entfernung sehe ich schließlich unser erstes Zwischenziel: Das Dorf Bever. Über einen wieder komfortablen Naturweg laufen wir durch offenes Gelände direkt auf den Ort zu.
Am Ortseingang erwarten uns lautstark bereits ein paar Fans. Wir queren den historischen Ortskern und traben weiter bis zum Schulhaus. Hier ist nach sechs Kilometern bereits die erste Verpflegungsstelle auf unserem Kurs positioniert. Das Verpflegungsprogramm ist beeindruckend: Kaffee, Cola und Bouillon gibt es, Birnenbrot und Salzgebäck, verschiedenes Obst, frisch wie getrocknet. Und all das Übliche von Iso bis Gels natürlich auch. Irgendwie habe ich das Gefühl, nach so kurzer Zeit noch gar nicht so viel an Versorgung verdient zu haben. Aber zu bedenken ist, dass das auch und vor allem für die Läufer der Langdistanzen angerichtet ist. Und die haben bis zu diesem Punkt schon sehr viel mehr geleistet.
Moderat, was das Streckenprofil angeht, geht es zunächst weiter. Ein Stück weit führt der Kurs durch weite Wiesen ins Val Bever hinein, wo wir schließlich über Brücken zunächst das Flüsschen Beverin und dann die Albula-Linie der Rhätischen Bahn queren. Unser Pfad führt nun wieder talauswärts, in leichtem Auf und Ab durch dichtes Buschwerk und folgend luftigen Nadelwald.
Im Flow des Trailrunnings einem anderen Läufer folgend merke ich gar nicht, dass die allgegenwärtigen gelben Wegmarkierungen auf einmal gar nicht mehr da sind. Ich sehe schon die Häuser von Muntarütsch in Samedan durch das Blätterdach schimmern, als mir der andere Läufer auf einmal entgegenkommt und mich mit einem „wir sind falsch“ aufweckt. Zumindest wirkt das wie ein Koffeinkick, denn in ungeahnter Behändigkeit eile ich bergan den Pfad zurück, hoffend, möglichst schnell auf den rechten Weg zurück zu finden. Es dauert aber doch ein paar hundert Meter, bis ein eigentlich nicht übersehbarer Pfeil den richtigen Abzweig weist.
Eine Infotafel an der Verpflegungsstelle in Bever wies schon darauf hin, was uns an Höhenmetern bis zum nächsten Zwischenstopp, der fünf Kilometer entfernten Alp Muntatsch, bevorsteht. Da von den avisierten 580 positiven Höhenmetern läuferisch bis jetzt noch nicht allzu viel „abgearbeitet“ sind, ist klar: Das dicke Ende kommt noch.
Und so ist es auch. In langen Serpentinen geht es über einen Forstweg durch den Wald nicht allzu steil, aber permanent bergauf. Für Mountainbiker weisen große Hinweistafeln im 500-Meter-Abstand darauf hin, wie weit es noch zur Alp ist. Auch für die Läufer ist das hilfreich, um besser einschätzen zu können, wie lang der kräftezehrende Anstieg noch andauert. Das ändert sich allerdings, als wir auf einen schmalen Pfad abgeleitet werden, der über reichlich Wurzelwerk und Gestein nun steil und unerbittlich in die Höhe führt. Im Zeitlupentempo stapfen die Läufer um mich herum mühsam Schritt für Schritt den Steilhang empor.
Erst ganz zum Schluss lichtet sich der Wald auf einmal und wir treten hinaus in offenes Gelände. Bis zum Horizont reicht der Blick über die baumlose Hochgebirgslandschaft. Und inmitten der Almen und gar nicht mehr fern wird die bewirtschaftete Alpbeiz auf der Alp Muntatsch sichtbar.
Ein richtig gemütlicher Flecken ist die langgestreckte schlichte Almhütte. Zahlreiche Wanderer und Mountainbiker stärken und sonnen sich hier, das weite Gebirgspanorama genießend. Eine Höhe von 2.186 m üNN haben wir damit nach elf Kilometern erreicht und gleich neben der Hütte zudem die zweite Verpflegungsstelle. Hier lasse ich mir etwas mehr Zeit, befreie mich von Rucksack und Laufstöcken und genieße vor allem das leckere Birnenbrot, wohlwissend, dass es bis zum Ziel - zumindest gemäß offiziellem Plan - nichts mehr geben wird.
Der mit Abstand schönste Streckenteil steht bevor. Von der Alp Muntatsch aus folgen wir dem sich durch das offene Gelände dahin windenden Höhenweg, immer wieder und weiter ansteigend, aber auch mit flachen und abfallenden Passagen. Bis weit in die Ferne lässt sich der Wegverlauf bisweilen einsehen. Grandios ist der Blick hinab ins breite grüne Engadintal und das weit in der Tiefe gelegene Samedan. Am fernen Horizont überragt schneebedeckt das über viertausend Meter aufragende Bernina-Massiv die Szenerie.
Gleichzeitig signalisieren düstere Wolkenbänke, dass die schwülen Luftmassen dabei sind, dem Sonnenschein mit Regen und Donner den Garaus zu machen. Die Wetter-App hatte so etwas schon vorhergesagt, aber im Hier und Jetzt ist das noch ausreichend fern und ich genieße die fantastische Kulisse im Sommersonnenlicht.
Bevölkert wird das Gebiet des Laufkurses aber nicht nur von Läufern, sondern auch von zahlreichen die steilen Almmatten als Weide nutzenden Kühen. Sie beäugen das Tun der Läufer, soweit sie in ihre Nähe kommen, durchaus interessiert, aber völlig entspannt. So ganz traue ich dem Frieden dennoch nicht und mache im Zweifel einen Ausflug ins Gelände, wenn der Pfad gerade „besetzt“ ist.
Höher und höher komme ich, was ich auch daran merke, dass der Wind bisweilen kräftig und kühl über den Hang bläst. Zudem nimmt der Durchsatz der Matten mit Felsbrocken merklich zu. Nur wenige hundert Meter trennen uns hier vor den Gipfeln der Berge, etwa dem 2.857 Meter hohen Piz Padella. Nach 15 km erreiche ich ganz unspektakulär den mit 2.489 m üNN höchsten Punkt unseres Kurses. Zumindest sagt das der Streckenplan, denn so ganz klar ausmachen kann ich diese Stelle nicht.
Jedenfalls ist es auf einmal so weit, dass es tendenziell nur noch abwärts geht. Auf dem teilweise ausgesetzten Pfad lasse ich es aber vorsichtig angehen. Immer wieder werde ich hier von deutlich schnelleren „ET16“-ern eingeholt und überholt. Im Tal rücken nun der St. Moritzersee und Ausläufer der Stadt ins Sichtfeld.
Eine weite Biegung des Hangs führt in ein Seitental hinein: das Val Saluver. Schon aus der Ferne sichtbar zieren stillliegende Seilbahnanlagen die kargen Hänge und signalisieren: Die Wintersportarena Corviglia – Marguns – Piz Nair, sozusagen das Hausskigebiet von St. Moritz, ist erreicht. In zahllosen Schleifen windet sich der Weg hinab. An der Talstation von Marguns nach 18 km angekommen, darf ich zu meiner Überraschung und Freude feststellen, dass hier wider Erwarten noch eine weitere kleinere Verpflegungsstelle angerichtet ist. Einen letzten Cola-Anschub gönne ich mir für die letzte Etappe.
Die schmalen Bergpfade enden hier und werden abgelöst durch einen breiten Forstweg, der uns in vielen Windungen weiter in die Tiefe führt. Rote Fangzäune lassen erkennen, dass wir uns hier auf wintersportlich genutzten Abfahrtspisten befinden.
Wir tauchen ein in eine liebliche Wald- und Wiesenlandschaft, am Horizont immer wieder das langsam näher rückende Samedan im Visier habend. Durch weite blühende Wiesen führt uns der Weg schließlich direkt hinein in das Dorf. Durch die Gassen werden wir bis an den Inn gelotst, dem wir ein Stück weit auf dem Uferweg folgen. Ein plötzlicher Abzweig und noch eine Kurve: Schon ist der Zielbogen in Sicht.
Persönlich wird jeder Einläufer vom Zielmoderator willkommen geheißen. Eine wahrlich riesige Holzmedaille bekomme ich umgehängt und zugleich eine kühle Dose alkoholfreies Bier in die Hand gedrückt. Dieses „Finishergeschenk“ kommt gerade zur rechten Zeit. Erschöpft lasse ich mich auf einer der Bierbänke nieder.
Das Gros der Läufer streckt sich derweil lang und breit unmittelbar in der Wiese neben dem Zieleinlauf aus. Für die Finisher geöffnet ist auch die angrenzende Promulins Arena, eine Multifunktionssporthalle, die bei schlechtem Wetter selbst größere Läufermengen aufnehmen könnte. Aber näher am Geschehen ist man eben draußen und das ist den meisten wichtiger.
Ziemlich schnell und ziemlich ungemütlich wird das Wetter. Weg ist auf einmal die Sonne, kräftig bläst ein kühler Wind und die dunklen Wolkenbänke ballen sich nicht nur über den umliegenden Bergen, sondern auch über Samedan. Froh bin ich, es noch bei guten Bedingungen ins Ziel geschafft zu haben.
Für die nicht wenigen noch on tour befindlichen Läufer des EUT102 wird aus Sicherheitsgründen der letzte Berg und damit mein heutiges Laufterrain gesperrt. Kurz darauf grollt schon der Donner und Regen prasselt. Gemütlich wird es da in der eigentlich gar nicht so heimeligen Halle. Und die gelbe Erbsensuppe aus der Hallenküche schmeckt im Warmen und Trockenen gleich noch viel besser.
Sehr gut organisiert, stimmungsvoll, mit wunderbaren Panoramablicken – so wird mir der Engadin Trail in Erinnerung bleiben. Wenn man schlau ist, hängt man noch ein paar Tage dran, um das Engadin auch im Übrigen etwas zu erkunden.