Tschirgant – ein eigenwilliger Name für einen Berg. Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich ihn unwissend eher im Kaukasus verortet als im nahen Tirol. Dabei ist der Tschirgant durchaus ein Berg, der ins Auge fällt, auch wenn man nicht den Namen kennt. Monolithisch trennt der als Ausläufer des Mieminger Gebirges bis auf 2.370 Meter aufragende Bergrücken das Oberinntal vom Gurgltal. Unnahbar wirkt er von Süden aus, wenn man vom gegenüberliegenden Ötztal auf dessen senkrecht abfallende Weißwand als Relikt eines Bergsturzes blickt. Als ungewöhnlich ebenmäßiger Kegel präsentiert er sich dagegen aus der Perspektive der Inntalautobahn, wenn man von Westen kommend gen Innsbruck rollt.
Für mich eindrucksbildend ist das Panorama, das sich im Auslauf der Fernpassroute bei Imst bietet. Steil steigen die von dichtem Bergwald bedeckten Flanken des Tschirgant empor, gekrönt von einem langen felsigen Gipfelgrat, der im ersten Morgenlicht schimmert. Unwillkürlich stellt sich mir aus der Talperspektive die Frage: Wie soll man denn da rauf kommen? Aber ich habe Vertrauen in die Veranstalter: Die wissen schon, wohin sie die Läufer schicken.
Womit ich beim zentralen Thema wäre: Dem Laufen. Der Tschirgant Sky Run ist eine noch ziemlich junge Veranstaltung, die 2025 ihr fünfjähriges Bestehen feiern darf. Nichtsdestotrotz: Professionell ist schon der Internet-Auftritt, motivationsfördernden Trailer eingeschlossen.
Vier Distanzen plus Prolog stehen im Angebot. Quasi die Königsdisziplin ist der TS52. Der Ultra über 53,2 km mit 3.532 Höhenmetern bietet die einmalige Gelegenheit der kompletten Gratüberschreitung. Auch der Marathon TS42 (42,6 km, +/- 2.364 m) nimmt einen großen Teil des Kamms mit, aber nicht dessen höchsten Part, und ist im Kurs auch sonst weniger „technisch“. Für Kraxler und Gipfelstürmer gedacht ist der TS26 „Experience“ (26,6 km, +/- 1.900 m), der sich wie der Ultra in den höchsten Regionen des Tschirgant tummelt. Der TS16 „Adventure“ (16,9 km, +/- 795 m) bleibt im Wald- und Almengürtel des Berges.
Meine Entscheidung: Der TS26 „Experience“ soll es sein.
Etwas erhöht thront das Städtchen Imst am Ausgang des Gurgltales über dem Inntal. Und hier, am westlichen Stadtrand, ist das weitläufige Sportzentrum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Veranstaltung. Knapp zwei Stunden Fahrtzeit, sagt mir das Navi, als ich am Samstag schon um vier Uhr von München aus aufbreche. Angenehm leer ist es um diese Zeit noch auf den Straßen, vor allem vor und hinter dem staugeplagten Fernpass, was für das Ungemach des frühen Aufstehens entschädigt.
Einiges los ist auf dem Startgelände zwischen Kletterturm und Eissporthalle, als ich gegen sechs Uhr eintrudle. Kein Wunder: Im Halbstundentakt werden die Läufer – mit dem Ultra beginnend - schon ab 6:30 Uhr auf die Piste geschickt. Schnell ist die Startnummer geholt und ich reihe mich ein in die Riege derer, die das Startprozedere zunächst aus der Zuschauerperspektive miterleben. Beim Ultra bin ich nicht dabei und um sieben Uhr auch nicht beim Marathon, aber dann.
Kaum sind die Marathonis unterwegs, öffnet der Startkorridor zur Pflichtgepäckkontrolle für die TS26-Läufer. Viel gibt es nicht zu kontrollieren, denn ein lupenreiner Sommersonnentag ist vorhergesagt und so ist jegliches „lang-lang“-Equipment entbehrlich. Signifikant höher als bei den beiden Langdistanzen ist der Andrang am Start. Wobei „Andrang“ etwas übertrieben ist. Mit 140 anwesenden Startern hält sich auch der TS26 noch im familiären Rahmen. Wobei insgesamt 500 Läufer aus 25 Ländern, so der Startmoderator, durchaus unterstreichen, dass sich die Veranstaltung überregional herumgesprochen hat.
Mit Hands Up zu AC/DCs „Thunderstruck“ bekommen wir den finalen Motivationskick, dann ertönt pünktlich um 7:30 Uhr der Startschuss.
Das anstehende Höhenmeterpensum mag beeindruckend sein. Aber los geht es erst einmal recht kommod. Durch einen ländlich geprägten Imster Außenbezirk geht es kurzzeitig auf Asphalt taleinwärts, ehe der Kurs in einer Schleife durch die weiten, in der Morgensonne saftig grün leuchtenden Wiesen des Gurgltals in die Gegenrichtung dreht. Den Fuß des Tschirgant erreichend geht es über einen breiten Naturweg mit ersten Steigungen hinein in den Bergwald. Nichts Dramatisches, aber mit meiner mangelnden Kondition kann ich schon hier nicht mithalten und finde mich schnell am Ende des Feldes wieder.
Der Weg durch die Westflanke mündet in einen Waldpfad, der uns geradewegs bis ins Dorf Karrösten führt. Mit 918 m üNN liegt der Ort bereits knapp hundert Meter höher als Imst und nun schon im Inntal. Über ruhige Nebenstraßen werden wir mittels auf den Asphalt aufgesprühter Pfeile und Punkte durch Karrösten dirigiert, ehe wir über einen Forstweg erneut in den dichten Nadelwald eintauchen.
Ein kurzes Stück weiter erreichen wir nach knapp sechs Kilometern verborgen im Tschirganter Wald die erste von vier Streckenverpflegungen. Wasser und Isogetränk, Obst und Kuchen stehen im Angebot und der Helfer stellt gar ein Bier in Aussicht, wenn wir auf dem Rückweg gen Ziel hier nochmals vorbeikommen.
Der schattenspendende und hitzeschützende Wald bleibt auch auf den folgenden Kilometern unser ständiger Begleiter. Das ist gut so. Denn erst über einen Forstweg und dann über einen wurzeligen Pfad geht es durch die Nordflanke bergan, nicht sonderlich steil, aber beständig. Durch die Bäume eröffnen sich ab und an schöne Ausblicke ins Tal und hinüber auf die morgenlichtüberfluteten Hänge der gegenüberliegenden Lechtaler Alpen.
Kurz nach neun Uhr ist es, als ich nach etwa neun Kilometern die inmitten sonnenbeschienener Almwiesen malerisch gelegene und panoramareiche Karrösteralm (1.468 m üNN) erreiche. Unweit der Almhütte ist auch der nächste Verpflegungspavillon aufgebaut und ich lasse mir etwas mehr Zeit, denn ich weiß: Jetzt kommt länger nichts und die nächste Etappe wird die mit Abstand herausforderndste.
Über die Alm hinweg führt ein wurzeldurchsetzter Pfad nun zunehmend steil in die Höhe. Der hohe, dichte Baumstand lockert zusehends auf und wird abgelöst durch üppige Bestände deutlich niedrigerer Latschenkiefern. Hübsch anzuschauen sind sie. Gleichzeitig wird der Untergrund steiniger, gerölliger, profilierter.
Immer lichter und karger wird die Vegetation und immer mehr dominiert der Fels, türmt sich nun schon gut sichtbar die Felsenkrone des Gipfelgrates über mir. Ein grandioser Ausblick bietet sich ins Gurgltal und auch die jenseits des Tales türmende Gebirgslandschaft. Die Kehrseite: Die Sonne brennt schutzlos und trotz der bereits erreichten Höhe mit enormer Kraft und lässt den Schweiß in Strömen über meine Stirn laufen, meine Augen brennen und der Blick durch die Brille trübt salzbedingt ein. Immer wieder halte ich inne, schöpfe Atem, um dann langsam weiter zu tapsen, mir Schritt für Schritt die Höhenmeter erkämpfend.
Der die Nordflanke schließlich in Gegenrichtung querende Pfad verspricht ein wenig Entspannung, da er nicht mehr gar so steil ansteigt. Die Spannung steigt, wann wohl die Gipfelzone erreicht ist. Eine einsam in der Landschaft thronende Hütte, vor der relaxt ein paar junge Bergwachtler mit Hundebegleitung harren, signalisiert quasi den Einstieg.
Urplötzlich wird aus dem Pfad ein Steig, mutiert der Streckenkurs zu etwas, was man nüchtern als „technisch anspruchsvoll“ bezeichnet. Ein Stahlseil ist über den nackten Fels nach oben gespannt und fordert nun meine Kletterfähigkeiten. In mir weckt das unvermittelt die Lebensgeister: Ja, genau so etwas hatte ich mir erhofft. Durch eine Scharte ziehe ich mich am Seil kraxelnd in die Höhe. In engen Serpentinen geht es im Anschluss weiter hinauf. Man muss schon etwas auf die Farbmarkierungen achten, um stets auf dem rechten Weg zu bleiben.
Und dann sehe ich es auch schon: Das erste große Gipfelkreuz. Ein paar Gipfelstürmer harren dort schon und wenig später darf auch ich mein „Gipfelfinish“ und zugleich die Bewältigung der ersten Streckenhälfte feiern.
Erst hier oben angekommen, kann man die schon eingangs erwähnte monolithische Lage des Gipfelgrates so richtig ermessen. Das Rundumpanorama aus 2.370 Meter Höhe ist einfach überwältigend. Hier das Inntal, dort das Gurgltal, jeweils um die 1.500 Meter unter mir liegend, dahinter die sich bis zum fernen Horizont einer nach dem anderen, teils noch schneebedeckt auffaltenden Gebirgszüge. Auch der Blick auf den sich weit in die Länge ziehenden schroffen Grat direkt vor mir hat es in sich. Und hier entlang geht es für mich nun weiter.
Ein gut erkennbarer Pfad zieht sich in stetigem Auf und Ab mal über, mal unterhalb der Gratkante entlang. Immer wieder sind in luftiger Höhe kleinere Klettereinlagen zu bewältigen. Nicht wirklich gefährlich, aber doch wäge ich meine Schritte und Tritte sorgfältig das Gleichgewicht wahrend ab. Weiterhin atemberaubend sind die Ausblicke nach nah und fern. Von unten kann man nicht erahnen, wie zerklüftet der Grat ist und wie er vor allem gen Süden oft dramatisch abfällt.
Ein ums andere Mal halte ich inne und zücke die Kamera. Es ist schon erstaunlich, wie so ein intensives landschaftliches Erlebnis in der Lage ist, die Mühen des kräftezehrenden Aufstiegs vergessen zu machen. Ein über den Kamm wehender lauer Wind bringt angenehme Kühlung. Mit der Holländerin Famke und den beiden netten Schlussläuferinnen bilde ich bei der Gratquerung quasi so etwas wie eine Seilschaft.
Dankbar, den Grat bei diesen Bedingungen erlebt zu haben und gleichzeitig ein wenig enttäuscht, dass diese Passage auf dem TS26-Kurs nun ein Ende findet, bin ich, als wir eine Schutz- und Picknickhütte erreichen, vor der erneut die Bergwacht Position bezogen hat. Man weiß ja nie …
War für den Aufstieg die Nordseite des Tschirgant bestimmend, so ist es für den Abstieg nunmehr die Südseite. Und der hat es in sich. In der Streckenbeschreibung im Internet fasst es der Veranstalter so zusammen: „Ebenso der Technische Downhill lässt Trailrunning Herzen höherschlagen“. Das kann man durchaus so sehen. Aber der Trail ist hier bisweilen so abschüssig und ausgesetzt, dass zumindest mein Herz auch aus anderen Gründen höherschlägt.
Eine herrliche Latschenkiefernlandschaft dominiert hier zunächst das steile und felsige Hanggelände, durch das sich der Pfad in die Tiefe schlängelt. Besonders kritische Passagen, vor allem dort, wo sich der Hang aufgrund von kleineren Erdrutschen jenseits des wenig stabilen Wegs unvermittelt in die Tiefe absenkt, sind mit Stahlseilen gesichert. Ab und an weist ein zusätzliches Schild explizit auf spezielle Gefahrenzonen hin. Aber auch da, wo Seile nicht ein gewisses Gefühl an Sicherheit bieten, denke ich mir ab und an: oho! Aber: Alles geht gut und auch ansonsten scheint hier noch nie jemand aus dem Tritt gekommen zu sein, wie ich später erfahre.
Immer wieder grandios ist der Blick in die Tiefe, in der ich aus der Vogelperspektive weithin beobachten kann, wie sich der Inn durch sein Tal mäandert. Überaus schweißtreibend und die Beinmuskeln fordernd ist dieser noch dazu voll der Sonne ausgesetzte Downhill Trail. Auch mein Flüssigkeitsvorrat geht zur Neige. Ich sehne den nächsten Verpflegungsposten herbei. Aber da muss ich mich gedulden. Tief unten, dort, wo das steile Latschengelände in Almwiesen mündet, sehe ich eine kleine Hütte stehen und mutmaße, dass dort wohl die erste Gelegenheit sein wird, so etwas einzurichten.
Und so ist es auch tatsächlich. Erschöpft erreiche ich nach 16 km den Posten und leere einen Becher Flüssigkeit nach dem anderen, kühlende Kopfdusche inklusive.
Mit einem Schlag ändert sich ab hier das Umgebungsbild und auch der Laufuntergrund. Über einen bequemen breiten, meist nur leicht abfallenden Forstweg geht es nun wieder durch dichten Bergwald. Richtig flott laufen lassen kann man es hier, doch bei mir stockt der Laufmotor schon bald wieder. Meine Trailschuhe drücken, meine Füße schmerzen, die Hitze fordert ihren Tribut.
Ab und an kürzt der Laufkurs über einen Pfad die sich in zahlreichen Serpentinen durch den Wald windende Forststraße ab. Erst hier merke ich, dass mir irgendetwas fehlt: Meine Laufstöcke. Ich habe sie doch tatsächlich an der letzten Verpflegungsstation liegen gelassen. Aber zurücklaufen? Nee, das packe ich jetzt nicht. Und so hoffe ich auf einen guten Geist, der die Stöcke im Ziel abliefert. Auf den guten Geist muss ich gar nicht lange warten: Denn eine der Schlussläuferinnen hat wohl schon geahnt, wem die Stöcke gehören und sie mir freundlicherweise hinterhergetragen.
Der Rückweg zieht sich, zumindest für mich. Nach 20 km treibt mich eine längere Berganpassage nochmals zu Schweißattacken, ehe einen Kilometer weiter ein letztes Mal die Verpflegung lockt, und zwar genau dort, wo die erste Verpflegungsstelle war. Damit schließt sich quasi der Kreis der Tschirgantrunde. Und tatsächlich zückt der Postenbetreuer eine Flasche Bier, leider alkoholhaltig, sodass der Genuss ihm allein verbleibt.
Downhill ist alsbald schon wieder Karrösten erreicht, wo es genau so still wie am Hinweg ist, nur jetzt deutlich heißer. Anders als beim Hinweg ist die Schleife durch das Gurgltal nicht mehr zu drehen. Dafür führt ein schöner schmaler Pfad durch Wald und Wiesen nun direkt auf Imst zu.
Durch die Bäume hindurch kann ich immer wieder Teile des Gewerbegebiets der Stadt erspähen, doch das eigentliche Ziel im Sportzentrum lässt noch auf sich warten. Das muss ich mir final erkämpfen. Denn der letzte Kilometer ist nochmals ein richtig harter und fieser. Er führt auf Asphalt entlang der Straße leicht, aber beständig nach oben. Es fühlt sich an, als ob ich durch eine Sauna marschieren würde und tatsächlich bestätigt mir später ein Thermometer 33 Grad C im Schatten. Da fühlt es sich auch sehr speziell an, am gut gefüllten und fröhlich lärmenden Freibad von Imst vorbei zu schleichen.
Endlich höre ich die Stimme des Zielmoderators aus dem „Off“. Aber ganz so schnell ist das Ganze für mich noch nicht ausgestanden. Statt direkt auf das Sportgelände zu führen, vollzieht der Kurs noch eine komplette Runde um dieses herum, ehe ich über den in blau ausgelegten Zielkanal die letzten Meter bis zum Zielbogen durchmessen darf.
Einfach nur platt bin ich. Ein kühles Zielbier hilft meine Sinne zu beleben. Alternativ hätte sich auch angeboten, sich vom Strahl einer Gartendusche von Kopf bis Fuß kühlen zu lassen, aber diese Option nutze ich dann doch nicht und verharre im Ruhemodus auf einer Bierbank im Schatten der Pavillons. Vereinzelt tröpfeln weitere Läufer ins Ziel, aber es sind primär die Ultraläufer, deren Finish jeweils gefeiert wird.
Ein besonderes Lauferlebnis war das, wenn auch für mich ein besonders langes und mühseliges. Aber gerade die Passage über den Grat ist etwas ganz Besonderes und die Erinnerung Prägendes und wird dieser Veranstaltung auch in Zukunft neue Fans bescheren. Manchmal muss man eben – zumindest ein wenig - durch die Hölle gehen, um den Himmel zu erleben.