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08.04.18 - Special Event

Patagonien, Land der Riesen

Autor: Joe Kelbel

 

Acht Kilometer bis zum nächsten PAS, El Bosque. Ich träume von Cola. Ab und zu lichtet sich der Wald und gibt Blick auf riesige, umgefallenen Baumriesen frei, die veritable Hindernisse darstellen. Nach 6 Stunden Laufen lässt die Gelenkigkeit nach.  Die Entscheidung, ob drunter, oder drüber ist nicht einfach. An einer Baumbrücke rutsche ich ab und falle kopfüber und ziemlich uncool in den Bach. Voll besudelt robbe ich weiter ins Torfgebiet. Da lacht das Herz über das Licht und den lieblichen Untergrund aus modernem Moos.  Doch sogleich landet mein erster Schritt in der Tiefe, wo man schwarze Moorleichen findet.

Ich werde mürrisch. Am PAS El Bosque gespielte Fröhlichkeit. Mein Laufpass dokumentiert 2 Minuten Aufenthalt, um zwei Schokoriegel zu bunkern.  Ich habe wirklich keine Peilung mehr, kann mich rund um das Lagerfeuer nicht orientieren. Ist ja auch nicht so, dass irgendein Helfer mir irgendwas anbieten würde, mir irgendwie etwas reichen würde, eine Speisekarte wenigstens.  Das sind keine Läufer, das sind Hilfskräfte. Mir egal. Wie viele Läufer nahmen teil? 91! Kann nicht sein!  Wie viele sind hinter mir? 4!  Bullshit, wie sich später raus stellen wird. Weiter!

6 Kilometer bis zum nächsten Kontrollpunkt bedeuten 2 Stunden! Unterzuckerung. Stört mich nicht, macht ja high.  Die tieferen Schlammlöcher kann man nicht erkennen, ich hangele mich an den dürren Baumstämmen entlang, rutsche auf‘m Arsch die steilen Passagen hinunter, haue mir Familienplanung und Rübe ein. Kennt jemand Bruce Chatwin? Das sind so Typen, die durch die Welt laufen. Chatwin kündigte seinen Job per Telegramm: „Have gone to Patagonia“. Heute gibt es Facebook. Wer nie durch Patagonien gelaufen ist, wird nie Schriftsteller!  

„Traditionelle Suppen“ wurden auf der Speisekarte des Veranstalters als Verpflegung benannt. Gerald, der Witzbold, fragte mich im Vorfeld des Laufes, warum ich nicht meine Essenswünsche über die Homepage übermittelt hätte.
Die „Tradionelle Suppe“ gibt‘s nicht.  Es gibt nichts! Wirklich nichts! Nur Stinkschlamm. Nach 40 Kilometern erreiche ich PAS Rio Tenerife. Mein Laufpass dokumentiert, dass ich ohne Aufenthalt durchge„laufen“ bin. Mit Laufen hat das Ding hier nichts zu tun. Der Braveheart Battle ist ein Mon Cherie dagegen. Was ich hier mache, erinnert mich an den Roman von Josef Martin Bauers  „Soweit die Füße tragen“. Und seine Erlebnisse sind real!

Ähnlich wie dieser Kämpfer stehe ich real vor dem nächsten Sumpf und stelle fest: „ Sinnlos!“ Gedanken und Zweifel. Mich trennen  noch 15-20 Kilometer von meinem dropbag, in dem ich nicht nur trockene Socken gebunkert habe. Ich habe Angst, meine Stirnlampe anzumachen.  Sie könnte ja keinen Saft mehr haben. Entgegen den Anweisungen habe ich die zwei weiteren Stirnlampen bei km 55-60 deponiert. Geschwindigkeit gegen Null, macht ja keinen  Sinn. In der Dunkelheit sehe ich komische leuchtende Pilze, die auf den Ästen kleben. Sehen aus wie Quallen. Von der Ferne höre ich Kirchenglocken. Die fluoreszierenden Pilze sind echt, die Kirchenglocken nicht. Aus jedem Bach nehme ich jetzt Wasser, Getränkepulver  habe ich vergessen. Salztabletten auch. Anfängerfehler.

PAS Rio Teneriffe: Vor mir ein Läufer, der auf allen Vieren über die Leiterbrücken kriecht. Ich zeige Rückgrat und gehe aufrecht hinüber, ohne anzuhalten, weiter am Kontrollpunkt vorbei. Was sollte ich hier auch erwarten? Einen Keks? Ich erwarte nichts mehr, habe längst erkannt, dass dieser Lauf Abzocke ist.

Die nächsten 16 Kilometer bis zum PAS Ascenso  sind nicht mehr in meinem Kopf. Nach elf Stunden „Laufzeit“ sehe ich sieben Läufer, die um das Lagerfeuer  stehen und mit ihren Stirnlampen einen vollgemüllten, von Gestrüpp befreiten Platz inmitten des stockdunklen Waldes beleuchten. 

 

 
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„Hablas espanol?“ Gott, wie schwierig kann es sein, einfach „Si“ zu sagen? Ich stehe da  wie ein Depp und ein Volldepp steht mir gegenüber und denkt, ich sei taubstumm: „Abla conmigo!“ Zweimal, dreimal brülle ich ihm „Abla conmingo“  ins Gesicht, dann antwortet er  heulend: „el correro“, also abgebrochen! 20:20 Uhr. Ich reagiere total passiv, torkele Richtung Feuer.

In den nächsten zwei  Stunden wird es voll auf diesem Waldplatz. 30 weitere Läufer treffen ein. Helfer, die hilflos sind. Sie tippen auf ihren GPS-Empfängern rum, können uns nichts sagen. Gegen 23 Uhr brechen wir auf, machen eine halbe Runde um das Camp. Der Helfer findet nicht den Evakuierungsweg, falls es einen geben sollte.

Wir frierende Läufer gehen zurück zum Lagerfeuer, entfachen  fünf weitere Feuerstellen. Eine Rettungsdecke reicht nicht, sie brennen aber gut, eignen sich als Anzünder. Die vielen Äste, die hier rumliegen, sind erstaunlich brennbar.  So wie die Laufschuhe, die fürchterlich stinken, als deren Träger am Feuer einschlafen. Strümpfe fackeln blitzschnell ab, erhellen blitzartig das absurde Geschehen. Wer seine Rettungsdecke verknüllt hat, muss wärmenden Anschluss suchen.  Wird mir gerne gewährt. Man wird stoisch, passiv, lässt sich hängen, hat keinen Überlebenswillen mehr. Viele Läufer dämmern weg. Ich beschäftige mich damit, meine nassen Schuhe am Feuer zu wenden, damit sie nicht abfackeln. An meinen Strümpfen klebt Schlamm, der fängt augenblicklich an zu glühen und brennt sich ein.

 

 
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Nach 6 Stunden  gleicht das Lager der Absturzstelle eines A 380. Läufer liegen um das Feuer und zucken wie Vibratoren. Wortlos versuchen wir zu helfen: mehr Feuerholz, mehr Rettungsdecken. Der Platz sieht aus, wie Area 51:  Goldene und silberne Absturzopfer, die von der Kälte entstellt sind.

Der Ortungschef  kommt um 3 Uhr ins Lager, er will uns ins Tal führen. Nicht einfach, denn viele  Läufer müssen „en el bano“, wie es hier ausgedrückt wird. Deren Geräusche übertönen die Kommandos zum Aufreihen.  Zum ersten Mal wird durchgezählt.  Wer in den Büschen hängt, wird nicht registriert. Der 5 Kilometerweg Richtung Fiord (so wird der hier geschrieben) geht wieder durch tiefe Schlammlöcher.  Niemand lacht mehr, wenn jemand feststeckt und die Stinkbrühe küsst. Um 7:30 Stehe ich unter der Dusche in Puerto Natales.  

Patagonien wurde von Magellan so benannt, es bedeutet „Land der Riesen“. Tatsächlich berichten alle Seefahrer von diesen riesigen Indianern (3,66 m). Uns bekannt ist die Geschichte von Gullivers Reisen.  Zwei menschliche Beweise  starben auf der Seefahrt und wurden versenkt, denn es herrschte der Aberglaube, dass ein Toter an Bord den Kompass durcheinander brächte.

 

 

Ich glaube, es kommen nächstes Jahr mehr deutsche Läufer (01.-06. April 2019). Ich bezweifele aber, dass der Lauf nochmal stattfinden wird.  Dabei wäre er machbar.  Für Vollbekloppte!

Gerald hat den 10. Platz des abgebrochenen Laufes mit 80 km erobert. Mit ihm zusammen laufe ich in den nächsten Tagen Teile der  Strecken ab, die ich nicht laufen durfte. Fantastische Strecken. Traumhafte Strecken, Patagonien halt.

 

 
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