Die Durchquerung der Vogesen ist recht einfach zu planen. Eigentlich als Ersatz für ausgefallene Rennen in Coronazeiten gedacht, hat sich das Projekt des Vogesen-Crossing in unserem Verein zu einem Herzensprojekt entwickelt. Nach zwei wunderschönen und relativ einfachen Etappen, geht es diesmal in die technisch anspruchsvolleren Hochvogesen. Von der Haut Koenigsbourg führt uns der Weit-Wanderweg GR 5 dabei bis zum Grand Ballon, dem höchsten Gipfel der Vogesen. Etwa 94 Kilometer mit 4.200 Höhenmetern erwarten uns.
Die einfache Erreichbarkeit der Versorgungsorte und die gute Infrastruktur machen die Planung diesmal einfach. Fünf Frühstarter, fünf Spätstarter und zwei Quereinsteigerinnen bei der Hälfte der Strecke, bilden das Starterfeld. Die Startzeiten sind so geplant, dass wir alle etwa zur gleichen Zeit am Nachmittag des Folgetages am Gipfel des Grand Ballon ankommen.
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Etappe 1: Danon, der heilige Berg
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Doro, Astrid und ich fahren mit Jenny, die uns mit Uli während der geplanten 20 Stunden supporten wird. Stefan wartet schon auf uns am verabredeten Parkplatz an der Haut Koenigsbourg, wo im letzten Jahr die zweite Etappe endete. Er trägt Handschuhe und Wintermütze, was uns nicht überrascht, als wir aussteigen. Es ist lausig kalt und ein eisiger Wind bläst uns um die Nase. Fünf Minuten später kommt Hans Werner an. Seine Frau Uli fährt den Food-Truck mit unserer Verpflegung. Schnell machen wir uns fertig. Noch ein Abschiedsfoto und schon geht es los. Die Spätstarter werden uns neunzig Minuten später folgen.
Im Wald brauchen wir von Anfang an die Stirnlampen. Es ist kalt und wir geben ordentlich Gas, um die Kälte zu vertreiben. Schon nach wenigen Kilometern laufen wir durch das idyllische Thannenkirch. Durch die Fenster der heimeligen Weinstuben sehen wir die Touristen beim Abendessen und fragen uns, ob wir auf der richtigen Seite des Fensters sind. Der wunderschöne Sternehimmel im ausgehenden Tageslicht vertreibt aber alle Zweifel. Wir sind gut gelaunt und freuen uns auf das selbstgemachte Abenteuer.
Hinter Thannenkirch geht es erst mal ein Stück bergauf. Damit verschwindet auch die Kälte aus den Knochen. Unter uns sehen wir die Lichter von Ribeauvillé und Colmar. Im steilen, holprigen Abstieg passieren wir die Ruinen der Burg Giersberg. Der ehemalige Stammsitz von Buki, meinem Lauffreund, der heute leider nicht dabei sein kann. Die Herren von Ribeaupierre ließen insgesamt drei Wehrburgen bauen, deren Ruinen heute über einen Wanderweg gut zu besuchen sind. Eine große Wandergruppe mit Kindern und Jugendlichen kommt uns entgegen. Sieht so aus, als wird heut Abend noch gefeiert. Zwischen Rebstöcken erreichen wir den schönen historischen Ort, von dem wir aber nur die Stadtmauer sehen. Ribeauvillé konnte sich seinen mittelalterlichen Charme mit seinen kleinen Gassen und Wehrtürmen weitestgehend bewahren und eignet sich vorzüglich für ein gemütliches Wochenende zu zweit.
Für uns beginnt hier der erste lange Aufstieg nach Aubure, dem höchst gelegenen Ort im Elsass. Im Wald ist es stockfinster. Doro bleibt an einem Stein hängen und stürzt. Sie landet mit dem Knie unglücklicherweise direkt auf einem Stein. Das sieht nicht gut aus. Sie beißt auf die Zähne und läuft weiter. Vielleicht wird es ja gleich wieder besser. Am Roche du Tetras, einer schönen Gesteinsformation, haben wir den höchsten Punkt erreicht. Jetzt geht es wieder bergab bis zu unserem ersten Verpflegungspunkt in Aubure. Wir queren eine Kuhweide, wo uns die verdutzten Tiere hinterherblicken. Für Doro ist an der Verpflegung Schluss. Sie versorgt das blutende Knie und ist traurig, dass für sie die Reise schon nach 20 Kilometern endet.
Für uns geht es unspektakulär weiter bergauf. Die Geologie wechselt. Statt Grauwacke dominiert ab dem Col de Rehberg der Granit. Es wird steiniger. Wir laufen schweigend durch den bitterkalten Wald. Ab und an leuchtet die schmale Sichel des Mondes durch das Blätterdach. Dann der Ruf einer Eule. Der Boden ist gefroren und mit Raureif überzogen. Es geht mehrere Kilometer nur flach bergab und wir lassen es gemütlich rollen. In Le Bonhomme haben wir bei Kilometer 37 die zweite Verpflegung erreicht. Die Mädels erwarten uns schon. Ich nehme einen warmen Kaffee, esse aber nur wenig. Mein Biorhythmus steht noch auf Tiefschlaf und ich will keine Magenprobleme provozieren. Doros Knie ist angeschwollen und ich bin froh, dass sie sich nicht weitergequält hat.
Wenn es lange runter geht, geht es auch wieder lange hoch. Wir sind im Aufstieg zur Tête des Faux. Im ersten Weltkrieg war der Gipfel aufgrund seiner exponierten Lage heiß umkämpft. Der Untergrund ist ab jetzt sehr felsig und die Wege bestehen nur noch aus grobem Blockwerk. Wir passieren eine imposante Geschützstellung und einen großen Bunker. Im Gipfelbereich erkennt man noch viele Unterstände und Reste der Schützengräben und Wehranlagen. Die Dämmerung bricht heran und gibt dem Ganzen eine seltsame Stimmung. Bis die Sonne erscheint dauert es aber noch eine Weile. Stefan und Hans Werner sind durch. Die Kälte und die technisch anspruchsvolle Strecke haben sie zermürbt. An einem Soldatenfriedhof trennen wir uns. Für mich und Astrid wird es einfach zu kalt, wenn wir auf die beiden warten müssen.
Die Strecke bleibt weiterhin anspruchsvoll, auch wenn es vorerst keine größeren Steigungen mehr gibt. Wir begrüßen die ersten Sonnenstrahlen und freuen uns über die Wärme, die direkt spürbar ist. Nach dem Col du Calvaire erreichen wir eine baumlose Hochebene. Rechts von uns eine Sommerrodelbahn, links unter uns liegt der Lac Blanc noch im Schatten. Die Sonne wärmt unsere ausgekühlten Knochen und wir genießen diesen verblockten aber doch wunderschönen Abschnitt. An einem Aussichtspunkt sehen wir schon unser heutiges Ziel, das allerdings noch verdammt weit weg ist. Unter uns jetzt der Lac de Truites und später der Lac Vert. Ich kenne die Ecke ganz gut. Hier habe ich vor langer Zeit am Schantzwasen die Spaltenbergung an einer Schneewechte geübt und mit der Familie schöne Wanderungen unternommen.
Wir laufen oberhalb der Skiliftanlagen auf grobem Blockwerk über Blumenwiesen und haben freie Aussicht bis zu den Alpen. Vorbei an steilen Abbrüchen geht es in stetigem Auf und Ab über die baumlose Hochebene, bis wir nach einem steinigen Downhill durch einen Märchenwald den Col de La Schlucht erreichen. Der Pass bildete früher die Grenze zwischen Frankreich und dem deutschen Reich und damit auch die Sprachgrenze. Er ist ein beliebter Klassiker bei der Tour de France und mit der anschließenden Route des Crêtes, eine beliebte Ausflugsstrecke für Radfahrer. Auf uns wartet hier die nächste Verpflegung.
Wir versorgen uns ausgiebig und nehmen in der Auberge noch einen doppelten Espresso. Stefan und Hans Werner werden später hier aussteigen. Zu anstrengend war das Blockwerk und die Kälte für die beiden. An Aufhören denken Astrid und ich keine Sekunde. Obwohl noch ein kalter Wind bläst, ist das Wetter jetzt zum Laufen ideal.
Ab hier wird auch die Strecke deutlich einfacher. Breite Wege führen uns in moderater Steigung durch einen Märchenwald. Immer wieder blühende Kuhweiden und fantastische Ausblicke begleiten uns zum Gipfel Le Hohneck, der mit seiner Hütte schon von weitem sichtbar ist. Zum Grand Ballon, unserem Tagesziel sind es von hier aus Luftlinie noch 27 Kilometer. Das ist überschaubar. Dazwischen liegt allerdings noch ein langer Downhill und ein entsprechender Gegenanstieg von 1.000 Höhenmetern. Aber alles halb so wild. Der Downhill lässt sich perfekt laufen. Ab dem Lac de Schiessrothried geht es an vielen kleinen Weiheranlagen und unzähligen Wasserfällen entlang, bis ins Tal nach Mittlach. Viele Wanderer sind auf der Strecke, die uns immer sehr höflich Platz machen. Auch einige Trailrunner sind unterwegs. Wir genießen die Strecke sehr. Es ist jetzt angenehm warm und von Müdigkeit keine Spur. In Mittlach müssen wir auf unsere Verpflegung warten. So früh haben sie nicht mit uns gerechnet. Es läuft aber auch tatsächlich sehr gut bei uns heute.
Wir lassen uns Zeit. Gekochte Kartoffeln, Käse und als Abschluss noch ein paar Happen Melone dienen als Grundlage für den kommenden Anstieg. Aber alles halb so wild. Die nächsten 750 Höhenmeter legen wir auf einer breiten Fahrstraße mit angenehmer Steigung zurück. Ein Gel mit Koffein vertreibt die Müdigkeit auf der einfachen Strecke. Dann folgen in stetigem Auf und Ab wieder blühende Kuhweiden. Kurz vor dem Skigebiet Le Markstein bereiten sich Gleitschirmflieger auf den Start vor. Hier wartet auch die letzte Verpflegung auf uns.
Wir warten auf Katja, die heute Morgen in Le Bonhomme ins Rennen gestartet ist und die uns nach unserer Hochrechnung hier einholen sollte. Und so ist es auch.
Nach 10 Minuten geht es gemeinsam auf den Zielsprint zum Grand Ballon. Die Läufer der schnellen Truppe sind mit Julia, die ebenfalls in Le Bonhomme zugestiegen ist, noch weit hinter uns und so lassen wir es gemütlich die letzten acht Kilometer und 400 Höhenmeter angehen. Schon von Weitem sehen wir die große Radarstation auf dem Gipfel. Der Grand Ballon oder auch das Große Bellchen ist der höchste Gipfel der Vogesen mit 1.423 Meter über dem Meer. Es wird wieder frisch und dunkle Wolken ziehen heran.
Etwa eine Stunde vor der geplanten Zeit, erreichen wir unser Ziel, das Monument zu Ehren der Diables Bleus (die Blauen Teufel, ein Gebirgsjägerbataillon). Wir genießen den fantastischen Ausblick in die Rheinebene und zu unserem nächsten Ziel, Belfort im Jura. Dazwischen liegt noch das Elsässer Bellchen. Von dort sieht man übrigens am ersten Mai, dem Feiertag Beltane des keltischen Gottes Belenus, die Sonne über dem Grand Ballon aufgehen.
Bei uns hat sich die Sonne für heute verabschiedet. Wir warten im warmen Ausflugslokal auf die schnelle Truppe mit Joe, Micha, Marius und Julia, die kurz nach uns mit den ersten Regentropfen eintreffen. Es ist 18 Uhr und das Ausflugslokal schließt gerade seine Pforten. Wir feiern den Abschluss dann eine Stunde später gemeinsam in einer Pizzeria in Mulhouse, wo wir unser Nachtquartier haben. 95 interessante und landschaftlich ausgesprochen schöne Kilometer liegen hinter uns und wir freuen uns bereits auf den Abschluss unseres Vogesen-Crossings im nächsten Jahr. Dann vom Grand Ballon bis nach Belfort, der Grenze zum Jura.
Die Hochvogesen sind ein fantastisches Laufrevier. Der GR 5 ist über die gesamte Strecke sehr gut markiert. Selbst in der Nacht ist ein Verlaufen durch die rot reflektierenden Markierungen fast ausgeschlossen. Tagsüber gibt es viele Möglichkeiten, sich auf der Strecke zu verpflegen. Zudem gibt es viele Möglichkeiten, den Track mit dem Auto zu erreichen. Der GR 5 kann in beliebige Abschnitte geteilt werden und ist durch die gute touristische Infrastruktur ein perfektes Ziel für Selbstversorger.
Strecke
Haut Koenigsbourg – Grand Ballon 94,8 km/4.280 D+ und 3.523 D-
Im Dreiländereck Deutschland-Frankreich-Schweiz gibt es fünf Berge, die den Namen Bellchen tragen. Die Heimatforscher Walter Eichin und Andreas Bohnert haben nicht an einen Zufall geglaubt und in den 1980ern interessante Zusammenhänge entdeckt. Der Name wird mit dem keltischen Gott des Lichts, dem Belenus in Verbindung gebracht. Bei den Römern wurde Belenus mit Apollon, dem Gott des Lichts und des Frühlings gleichgesetzt und der 1.Mai als Feiertag Beltane als Beginn des Sommers begangen. Das ist genau der Tag, an dem die Sonne vom Elsässer Belchen ausgesehen, über dem Großen Belchen (Grand Ballon) aufgeht und die Plejaden für 40 Tage nicht mehr zu sehen sind. Ob das ein Zufall ist?
Die Bellchen sollen durch ihre besondere geografische Lage schon den Kelten als Sonnenkalender gedient haben, wobei das Elsässer Belchen das Zentrum dieses Systems darstellt. Von diesem Standpunkt geht genau über dem Schwarzwälder Bellchen bei der Tagundnachtgleiche die Sonne auf und bestimmt damit den Frühlings- und Herbstanfang. Die Sommersonnenwende wird mit dem Sonnenaufgang am Kleinen Bellchen (Petit Ballon) und die Wintersonnenwende am Schweizer Bellchen abgelesen. Somit können am Elsässer Bellchen alle Jahreszeiten bestimmt werden.
Die beiden Forscher gehen davon aus, dass das Bellchensystem von den Kelten schon vor 2000 Jahren zur kalendarischen Bestimmung der Jahreszeiten genutzt wurde. Weitere Kreuzungspunkte bei keltischen Siedlungen und weitere Peilachsen zu verschiedenen Gipfeln deuten auf ein umfassendes keltisches Vermessungssystem hin.