Dieser Ort hat viel erlebt, die Einheimischen nehmen es gelassen. Im schönen Ortskern von St. Wolfgang geht es ganz schön schnell und elegant abwärts. Das zeigt Wirkung bei den Zuschauern, die rechts und links von der Strecke stehen und applaudieren. Ein großes Transparent über den Köpfen der Läufer sagt uns, dass wir nach einigen Metern scharf rechts abbiegen müssen. Vorbei am Rössl. Nicht das Weiße, sondern das Schwarze Rössl. Jetzt ist der langersehnte Moment endlich gekommen. Jedoch nicht für uns. Die fünf Kilometerläufer sind im Ziel. Vor uns liegen noch 27 Kilometer.
Wir Marathonläufer werden sozusagen um zwei Häuserecken geleitet. Dabei laufen wir einmal über die Zeitmatte und gelangen dann wieder auf die klassische 27 Kilometerrunde des Wolfgangseelaufes. Hier wäre auch für uns ein Verpflegungspunkt gewesen, diesen haben wir aber verpasst. Wir sind zu beschäftigt, uns durch die vielen Finisher der anderen Läufe zu schlängeln. Auf einmal fehlt uns auch die Orientierung und wir sehen auch keine anderen Läufer mehr vor uns. Eine Passantin weist uns den richtigen Weg.
Die Morgensonne glitzert grell auf dem See und hat dem Nebel eingeheizt. Weiter geht’s am Fuße der Bergstation der Schafbergbahn vorbei. Sie ist die steilste Dampfzahnradbahn Österreichs. Bevor 350 italienische Arbeiter 1892/93 die Bahnschienen auf den Schafberg legten, kraxelte das Volk stundenlang bergauf. Feinere Herrschaften ließen sich auch schon mal tragen. Heute fährt man bequem mit der Dampfeisenbahn in einer halben Stunde nach oben. Man kann aber auch am Wettkampf „Mensch gegen (Dampf)Maschine“ teilnehmen. Auf einer Streckenlänge von nur 5,8 km gilt es 1240 Höhenmeter, immer entlang der Bahntrasse zu überwinden.
Für uns geht es da weitaus gemütlicher zu, denn wir laufen wunderschön flach am Seeufer entlang. Slalomartig laufen wir an den vielen Touristen auf der „Benatzky-Promenade“ vorbei, die hier am Schiffsanleger auf eines der Wolfgangseeschiffe warten. Ralph Benatzkys „Im Weißen Rössl“ ist für uns auch sozusagen die Antritts-Inszenierung kurz vor dem Aufstieg zum Falkenstein.
Seit 1873 fahren Passagierschiffe auf dem Wolfgangsee. Als es noch den Kaiser gab und die Adriahäfen Triest und Pula zu Österreich-Ungarn gehörten, fuhren die Alpländer mit einer eigenen Marine über die Ozeane, feuerten mit Kanonen, setzte Missionare zum Missionieren bei den "Heiden" ab und entdeckten sogar ein kleines Stückchen der Arktis. Es erhielt den Namen nach seinem Kaiser "Franz-Josef-Land".
Der Ortsteil Ried (18 Kilometer) ist erreicht und auch der Anstieg zum Falkenstein. Damit hatte ich tatsächlich nicht gerechnet. Mit diesem (200 HM) Anstieg wird das gängige Klischee von einem flachen Lauf rund um den See im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze getrieben und lehrt uns erholungsbedürftigen Läufer auch schon Mal das Fürchten.
Wie es sich auf einem Pilgerweg gehört, reiht man sich ein in den Strom von Menschen, die alle von derselben Sehnsucht, derselben Hoffnung beflügelt sind. Vielleicht auch von der Zuversicht, am Ende des Weges etwas zu finden, was man im Alltag vergeblich sucht. Jetzt sind wir auf dem ältesten Pilgerweg Europas unterwegs und schon entdecke ich die erste Schautafel. Seit dem Mittelalter berichten Pilger von einer Reihe mystischer Kraftplätze rund um den Wolfgangsee, vornehmlich am Berg Falkenstein. Nach ein paar wenigen Höhenmetern schaue ich zurück. Der Blick auf den Wolfgangsee von oben raubt einem den Atem. Ha ja, auch ein wenig der immer steiler werdende Aufstieg auf diesem St.-Rupert-Pilgerweg. Wie heißt es so schön: „Wallfahrern gibt er Kraft, Läufern kostet er sie“.
Als der heilige Wolfgang vom Falkenstein herabstieg, um seine Axt zu suchen, ließ er sich auf einem Stein nieder um zu rasten. Über den von Hunger und Durst ausgemergelten Einsiedler gleichsam erbarmt, wurde der Stein weich wie Wachs. Die Eindrücke des „Wundertäters“ sind bis heute tatsächlich zu sehen. Sich darauf setzen und das „Vater-Unser“ zu sprechen, soll bei manchen schon Wunder bewirkt haben. Für uns wird ein Wunder dann heute wohl ausbleiben, denn wir wollen ja schließlich noch irgendwann in St. Wolfgang ankommen. Stundenlang könnte man sich hier für den Aufstieg Zeit nehmen, aber noch liegen 23 Kilometer vor uns.
Man muss sich das mal vorstellen. Einige Pilger haben sich im Eifer ihrer St. Wolfgang-Verehrung den Weg zusätzlich erschwert. Eiserne Ringe hängten sie sich um den Körper oder um den Hals. Oder stellt euch nur mal vor, was hier los wäre, liefe einer nackt und mit ausgestreckten Armen auf den Falkenstein. Für den ein- oder anderen Läufer ist es aber auch heute nicht einfach. Schleppte man früher schwere Bußkreuze, so trägt man heute schwere Rucksäcke auf dem Rücken (Kay). Steckte man sich früher Linsen in die Schuhe oder ging Barfuß, so sind es heute drückende Einlagen (Andrea).
Nur wenige Kilometer und 200 Höhenmeter von St. Wolfgang entfernt, empfängt uns diese weiße Kirche, wie den Eindringling mit einer fast schon unheimlichen Stille. Die kleine Kirche, die sich an die Felswand des Falkensteins lehnt, ist eine „Unserer Lieben Frau“ und dem „Heiligen Wolfgang geweihte Wallfahrtskirche“ bereits im Gemeindegebiet von St. Gilgen. Sie befindet sich oberhalb der Höhle, in welcher der Heilige Wolfgang der Legende nach fünf Jahre gelebt haben soll. Nur das gleichbleibende Läuten der Glocke, hier und da der Applaus eines Wanderers, vermittelt das Gefühl, an dieser Pilgerstätte doch nicht ganz allein zu sein.
Im Wald riecht es nach nasser Erde und Pilzen. Wie zur Erlösung macht der Weg, der nun erst leicht bergab führt, den Blick frei zum Wolfgangsee. Es ist tatsächlich unbeschreiblich schön. Das sind die seltenen Momente, auf die ich mich während des ganzen Laufes freue.
Der sehr steile Abstieg des mit feinem Schotter gespickten Hanges macht Spaß, fordert aber auch volle Konzentration und gute Oberschenkelmuskulatur. Immer wieder begegnen uns Wanderer beim Aufstieg. Das Interesse an diesem Weg ist mittlerweile so groß, dass einmal im Jahr "Mystische Wandertage" angeboten werden. Wer es mehr mit irdischer Power hält, den wird eher das hervorragende Konditionstraining mit Panoramablick beeindrucken.
Wir sind wieder unten am See. Von weitem schallt die Stimme des Moderators zu uns. Bei Kilometer 22 ist hier am 300 Jahre alten Gasthof Fürberg eine Verpflegung aufgebaut. Der Moderator nennt jeden Läufer namentlich und die vielen Helfer verbreiten einfach nur gute Laune. Weiter führt die Strecke an einem schmalen Uferweg direkt am Wolfgangsee mit seinem blauen Wasser. Der See ist so klar, dass sich die Fischarten vom Land aus bestimmen lassen könnten. Segel-Farbtupfen von Orange und Weiß - wie für uns arrangiert.