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19.10.25 - Grand Raid Reunion

Der Grand Raid - die Diagonale der Verrückten

La Redoutte ist der Sehnsuchtort von La Réunion. Scheinbar alle Einwohnerinnen und Einwohner von der kleinen Insel im indischen Ozean wollen wenigsten einmal im Leben in diesem Stadion als Finisher der Diagonale des Fous, der Diagonale der Verrückten einlaufen. So wie ich. Jetzt sitze ich hier im Stadion mit hunderten Finishern und die Tränen der Enttäuschung fließen ungehindert über das gegerbte Gesicht. Es hat nicht geklappt.

Ein paar Stunden ist es her, als mich meine Frau fünfunddreißig lächerliche Kilometer vor dem Ziel als Häufchen Elend eingesammelt hat. Totalversagen. Nichts ging mehr. Over and Out. Und jetzt stehe ich hier nach ein paar Stunden Schlaf und beklatsche die Ankommenden. Auf dem Foto von mir, das meine Frau heute Morgen in die Familiengruppe geschickt hat, haben mich meine Kinder fast nicht mehr erkannt. Buki holt uns zum Trost ein Bier. Auch er hat es diesmal nicht geschafft.

Ich habe alles gegeben. Vielleicht sogar ein wenig mehr. Aber es war nicht genug. Die Enttäuschung ist groß, aber auch die Freude, dieses große Abenteuer erlebt zu haben. Auch wenn es diesmal nicht für ein Finish gereicht hat.

Dabei fing alles so gut und entspannt an.

 

 

Empfangskomitee

 

Schon am Flughafen wurden wir von einem Empfangskomitee begrüßt. Bei Kaffee und kreolischen Häppchen wurde uns die Strecke und das ganze Prozedere erklärt. Für die ausländischen Gäste gibt es extra Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die einen während der ganzen Veranstaltung unterstützen.

Ich bin mit meiner Frau bereits eine Woche vorher angereist um mich zu akklimatisieren und schon mal die Insel und insbesondere die Strecke zu erkunden. Montags holen wir meinen Laufpartner und Freund Buki am Flughafen ab. Am Dienstag stößt noch Katja zu uns. Wir haben schon viele gemeinsame Abenteuer zusammen erlebt und sind voller Vorfreude.

 

 
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Die Tage vor dem Rennen nutze ich ausgiebig für Ausflüge. Die Schönheit der Natur ist atemberaubend. Die Streckenführung allerdings auch und so habe ich gehörigen Respekt vor der Herausforderung. Mein Training lief bis zum Sommer recht gut. Die 100 Meilen beim ZUT konnte ich trotz großer Hitze recht gut finishen. Danach gab es jedoch einige Hürden. Nach der Regenation warf mich eine Thrombose im Trainingsplan weit zurück und so blieb außer einem langen Lauf keine Zeit mehr für viel spezifisches Training. Die geplanten Rennen in den Alpen musste ich allesamt sausen lassen. Buki hat den Lauf vor ein paar Jahren gefinisht und bestätigt die schwere Strecke. Zu unseren Gunsten ist das Zeitlimit von 66 Stunden. Das müsste eigentlich reichen.

 

Lasset die Spiele beginnen

 

Am Mittwoch treffen wir uns alle in St. Pierre zum Abholen der Startnummern. Praktischer Weise haben wir eine Wohnung in unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsgelände am Strand. Katja verspätet sich. Sie hat sich auf dem Weg zu einem Wasserfall verlaufen und kommt erst später dazu. Am Eingang zum Gelände wird uns ein Dolmetscher zugewiesen, der mit uns die Anmeldeformalitäten erledigt.

 

 
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Zuerst erhalten wir den Umschlag mit Startnummer und Aufklebern für die 3 Dropbags (zwei unterwegs, eins im Ziel). Danach geht es zur Rucksackkontrolle. Am nächsten Stand gibt es zwei Veranstaltungsshirts für Start und Ziel (alle laufen beim Start und im Ziel mit dem gleichen Shirt) und die drei Dropbags. Das war der offizielle Teil. In einer langen Schlange geht es dann zu den Sponsoren. Wir stehen eine Stunde an, bis wir eingelassen werden. Jeder soll genügend Zeit haben, ohne Gedränge die Messe zu genießen.

An jedem Stand gibt es Geschenke. Eine praktische Kappe mit Nackenschutz, eine Flask, Ärmlinge, einen GPS-Tracker zum Ausleihen, Becher, Tücher. Außerdem gibt es Infos zur Insel und Anleitungen zum Notfallmanagement und zum Naturschutz. Katja kommt recht spät. Der Weg zum Wasserfall war erheblich weiter als gedacht und ordentlich Höhenmeter hatte er auch. Zu allem Elend muss sie heute Abend noch mal zurück nach St. Denis, unserem Zielort, wo sie untergebracht ist.

 Nach dem Abendessen geht es gleich zu Bett. Wir müssen uns so gut ausruhen, wie es eben geht. Schließlich erwartet uns ein langes, anstrengendes Abenteuer.

 

Raceday

 

Ich schlafe, so lange es geht. Dann packe ich den Rucksack und die Dropbags. Katja meldet sich per SMS. Was ist los? Sie hat gestern Abend ihr Handy verloren und die ganze Nacht danach gesucht. Jetzt ist sie auf dem Weg zur Polizei. Zum Glück hat sie ihr Diensthandy dabei, das jedoch für die meisten Funktionen gesperrt ist. So ein Mist. Ich esse noch was Leichtes zu Mittag, dann geht es wieder ins Bett. Später kommt Buki vorbei und wir liegen auf den Sofas, bis es endlich losgeht.

Der Start ist um 22 Uhr. Gegen acht kommt Katja endlich an. Sie hat die letzten beiden Nächte kaum geschlafen und ist jetzt schon hundemüde und total erledigt. Kein guter Anfang. Um viertel vor neun hält uns nichts mehr. Ein letzter Check des Rucksacks und der Dropbags. Eins für Cilaos, km 76, und eine Tasche für Savannah, km 139. Die Tasche fürs Ziel spare ich mir. Meine Frau wird mich dort empfangen.

 

 
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Die Straßen sind voller Menschen. Dazwischen Läuferinnen und Läufer, die sich mit den Dropbags durch die Massen zum Start schlängeln. Es herrscht eine fröhliche, aufgeregte Stimmung. Musikgruppen geben alles. Auf verschiedenen Bühnen wird die Menge angeheizt und mit letzten Informationen versorgt. Die ganze Insel scheint hier zu sein. Entweder zum Laufen oder zum Anfeuern. Für die Angehörigen, die ihre Lieben unterwegs verpflegen, gibt es sogar extra Event-Shirts zu kaufen.

Wir schaffen uns zum Eingang der Startaufstellung. Am Einlass wird darauf geachtet, dass das anschließende Einchecken ohne Hektik möglich ist. Es kommen also immer nur kleine Gruppen auf das Gelände. Uns erwartet die Dolmetscherin, die Katja gestern und heute bei ihren Problemen mit dem Telefon unterstützt hat. Sie begleitet uns zur Rucksackkontrolle und zur Abgabe der Dropbags. Dann gehen wir in unseren Startkorridor. Alles ist perfekt organisiert. Wir sind aufgeregt und fiebern dem Start entgegen.

 

Allez, Allez

 


Dann geht es endlich los. Die vier Startblocks werden nacheinander in den Startkorridor entlassen. Dann hören wir den auch schon den Startschuss. Unter dem frenetischen Jubel der Zuschauerinnen und Zuschauer setzt sich die Masse langsam in Bewegung. Alle tragen das gleiche Shirt. Alle haben das gleiche Ziel. Es sind die Verrückten, die sich die nächsten drei Tage auf dieses Abenteuer einlassen.

Die Stimmung ist unbeschreiblich. Wir laufen durch einen Korridor aus Menschen, der kein Ende nimmt. Mein Name wird tausendfach gerufen, mit vielen guten Wünschen und Applaus. So geht es durch die ganze Stadt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer stehen auch noch nach vier Kilometern in Dreierreihen hinter der Absperrung. Die Stimmung reißt nicht ab, bis wir die Stadt endgültig verlassen haben und durch Zuckerrohrfelder laufen. Sobald ein befahrbarer Weg in der Nähe ist oder auch ein paar Häuser zu sehen sind, stehen auch wieder Menschen am Weg und feuern uns lautstark an. So was habe ich noch nicht erlebt. Die Begeisterung für unseren Sport ist auf der Insel fantastisch. Die Unterstützung für die Teilnehmenden unglaublich. Die ganze Insel liebt und lebt dieses Rennen.

Die Strecke geht nach Verlassen von St. Pierre eigentlich immer berghoch. Nach der langen Straße wechseln wir auf gute Fahrwege durch Zuckerrohrfelder. Der Rum der daraus gemacht wird, ist die Haupteinnahmequelle der Insel. Das Feld hat sich einigermaßen sortiert. Nur ab und zu sprintet jemand an mir vorbei. Wahrscheinlich waren die nicht rechtzeitig zum Start in St. Pierre. Ansonsten sind die Läuferinnen und Läufer sehr entspannt.

Den ersten Stau gibt es nach 14 km an der Verpflegung Domaine Vidot. Aber nur für die Neulinge. Beim Verlassen des Zeltes sehe ich, dass man draußen ohne anzustehen seine Flaschen an einer großen Station auffüllen kann. Essen will ich eh noch nichts. Egal, ich liege gut in der Zeit. Buki habe ich in dem Trubel aus den Augen verloren. Spätestens an der nächsten VP werden wir uns wieder treffen.

 

 
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Warten unter Palmen

 

Nach der Verpflegung gibt es dann einen riesen Stau auf der Strecke. Wir wechseln vom guten Weg auf einen Single Trail, der uns durch Bambus und Bananenbäume führt. Wir stehen eine gute halbe Stunde und auch dann geht es nur langsam und mit vielen Pausen weiter berghoch. Ich verliere auf diesem Abschnitt über eine Stunde. Immerhin ist es angenehm warm und man kühlt nicht aus.
Dann werden die Wege wieder etwas breiter und der Stau löst sich auf.

Wir sind auf der Hochebene, die wir die Woche schon mal mit dem Auto durchquert haben. Noch ist es stockdunkel und nur die Sterne glitzern am Nachthimmel. Bevor die Dämmerung anbricht, ziehe ich die weite Windjacke über. Wir sind auf knapp 2000 Meter und ich freue mich über die ersten Sonnenstrahlen, die den Piton des Neiges, den höchsten Gipfel der Insel zum Strahlen bringen.

In ständigem Auf und Ab sind wir unterwegs zum Nez de Boeuf. Links von uns die Hochebene, dahinter der Piton des Neiges, unser nächstes großes Ziel. Mein linkes Knie meldet sich. Die Sehne zwickt mal wieder. Ich habe extra eine Bandage mitgenommen, aber die zeigt wenig Wirkung. Eigentlich laufe ich berghoch immer mit Stöcken. Die sind bei der Diagonale des Fous aber nicht erlaubt und so muss ich schauen, dass ich mein Knie nicht überstrapaziere.

 

 
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Guten Morgen

 

Buki hab ich unterwegs verloren. Katja ist wahrscheinlich vor mir. An der Verpflegung Nez de Boeuf, nehme ich erst mal einen Kaffee und fülle die Vorräte auf. Die erste Nacht ist geschafft. Ich packe die Kopflampe weg und telefoniere mit meiner Frau. Ich habe gut zweieinhalb Stunden Zeit bis zum Cuttoff. Buki ist eine Stunde hinter mir und Katja noch eine halbe Stunde später, was mich wundert. Da scheint was nicht zu stimmen. Bevor es weitergeht, besuche ich noch das Sanitätszelt und stabilisiere das Knie mit einem Tape.

Die Sonne scheint und es ist bereits sehr warm. Ich bin froh, dass es jetzt moderat nach unten geht. Aber die Wege erfordern große Aufmerksamkeit. Ausgewaschene Rinnen und zu allem Elend links und rechts rostiger Stacheldraht oder Dornenbüsche erlauben keine Unachtsamkeiten. Egal. Wo man beim Stolpern hingreift, wir es wehtun. Wir queren die landwirtschaftlich genutzte Hochebene. Die Vegetation ist eine Mischung aus Weiden, silbergrünen Krüppelwäldern und üppigen Blühpflanzen, die ich bei uns aus dem Blumengeschäft kenne.

 

Hähnchen vom Grill



Die nächste VP in Mare à Boue ist wieder gut mit dem Auto zu erreichen. Die Straße ist komplett zugeparkt und auf dem Fahrweg zur VP haben die Angehörigen private Versorgungsstationen eingerichtet. Massage, Essen, Trinken. Alles, was man nach 55 Kilometern so gebrauchen kann. Aber auch die Verpflegungsstation selbst hat allerhand zu bieten. Ich versorge mich mit einem Stück Poulet (gegrilltes Hühnchen) und Nudeln mit Linsensuppe – Stärkung für den kommenden Anstieg zum Piton des Neiges. Da werde ich die Energie gut brauchen können.

Der Weg von hier nach Cilaos ist eine der Schlüsselstellen des Rennens. Ich bin konstant unterwegs und auch der Abstand zu meinen Mitstreitern hat sich nicht geändert. Das Tape am Knie zeigt Wirkung. Alles bestens.

 

 
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Schnell lassen wir die Weidelandschaft hinter uns. Der Aufstieg zum Cirque de Cilaos beginnt erst durch silbernen Wald, dann tauchen wir in einen dichten Urwald ein. Farne, Moose und Flechten gedeihen in den feuchten Wolken besonders gut. Ein schmaler Pfad windet sich durch die fantastische Vegetation. Dazwischen immer wieder karge Vulkanlandschaft mit knorrigen Büschen und kleinen Bäumen. Dann wieder üppige Vegetation mit Blütenteppichen links und rechts der schwierigen Trails. Es wird immer steiler. Kurze Downhills mit Leitern und Treppen bringen keine Erholung. Es ist sehr warm und der Schweiß fließt in Strömen. Als wir die Wasserstelle Kerveguen erreichen, ziehen Wolken über den Kamm und es wird kühler. Nachdem wir aufgetankt haben, folgt das steilste Stück.

 

Cirque de Cilaos

 

Wir steigen auf bis kurz vor den Gipfel des Piton des Neiges. Ein hartes Stück Arbeit. Am Übergang zum Cirque de Cilaos steht ein Zelt mit Helfern. Wir schnaufen kurz durch und stürzen uns in den haarigen Downhill. Zuerst umgibt uns karges Buschwerk, dann folgt tropischer Urwald mit vielen blühenden Pflanzen, riesigen Farnen und saftigem Grün. Wir blicken in den Cirque de Cilaos, den Kessel eines Vulkans, dessen Ränder fast senkrecht in die Höhe steigen. Die Stadt Cilaos liegt unter uns in den Wolken. Nach knapp 4 Kilometern haben wir mehr als 1.100 Höhenmeter verloren.

 

 
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Bei Le Bloc gibt es eine weitere Verpflegung. Kurz auftanken und direkt weiter. Am Wegrand sieht man jetzt immer öfter Läuferinnen und Läufer, die eine freie Stelle, von denen es nur wenige gibt, für ein Schläfchen und eine Pause auf der technisch sehr anspruchsvollen Strecke nutzen. Das war die erste Schlüsselstelle des Rennens und ich bin froh, dass mein Knie so gut mitgespielt hat. Noch eine Rampe, dann laufen wir bequem über Asphalt in Cilaos ein.

 

Life Base



Auch hier werden viele Läuferinnen und Läufer von ihren Angehörigen erwartet. Die ganze Stadt ist voller Menschen, die uns freudig erwarten. Im abgesperrten Stadion gibt es das Dropbag. Ich wasche mich, ziehe mich um und mache mich fertig für die zweite Nacht. Die Verpflegung entdecke ich erst beim Auslaufen aus dem Stadion. Das hatte ich so nicht auf dem Schirm. Ich hätte die Pause besser nutzen können.

 

 
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Zum Col du Taïbit

 

In der anbrechenden Nacht laufe ich aus der Stadt. Schnell ist es stockdunkel und ich fühle mich recht frisch. Von Müdigkeit noch keine Spur. Wir folgen einem Bachlauf oder kleinen Fluss noch ein langes Stück bergab bis zum Grund des Cirque. Dann geht es nur noch berghoch. Nach sechs harten Kilometern sind wir an der Verpflegung vorm endgültigen Aufstieg zum Col du Taïbit. Die Straße, die wir queren ist vorerst der letzte Weg in die Zivilisation.

Der Col du Taïbit ist einer der drei Zugänge zum Cirque de Mafate. Dorthin kommt man nur zu Fuß oder mit dem Helikopter. Früher wurde der Talkessel von entlaufenen Sklaven als Zuflucht genutzt. Heute leben hier in ein paar kleinen Dörfern die freundlichen Bewohner weitestgehend im Einklang mit der Natur. Aber so weit sind wir noch nicht. Tausend schwere, technisch anspruchsvolle Höhenmeter müssen erst noch bezwungen werden, um die Caldera mit ihren fast senkrecht abfallenden Kraterwänden zu erreichen.

 

 
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Auf dem Weg hoch zum Pass erreichen mich die ersten Läuferinnen und Läufer der 100 km Strecke. Das hätte ich jetzt nicht gebraucht. Ich mache so gut es geht Platz, aber finde keinen rechten Rhythmus. Das Feld des Trail du Bourbon ist gerade erst in Cilaos gestartet und wurde ohne Umwege auf unsere Strecke geleitet. Alle sind sehr freundlich und respektvoll. Es wird auch nicht gedrängelt. Trotzdem wäre ich froh, ich könnte mein Tempo machen. Ohne Stöcke sind die großen Stufen sehr kräftezehrend für mich. Es wird frisch und ich ziehe mir die Windjacke über, aber der Anstieg ist so anstrengend, dass es zu warm ist, sobald kein Luftzug mehr da ist.

Der Weg ist schmal und sehr steil geht es im Zickzack hoch zum Pass. Oben auf dem Col du Taïbit liegen viele Läuferinnen und Läufer in ihren Rettungsdecken und schlafen eine Runde. Ich mache mich direkt an den schwierigen Abstieg. Vom Cirque de Mafate sieht man nichts. Es ist stockfinstere Nacht. Über uns der Sternenhimmel, um uns herum üppige Vegetation.

Und immer noch viele Läuferinnen und Läufer der 100er Strecke. Alles ist feucht und nass, sonst würde ich mir ein Plätzchen suchen und einen Powernap nehmen, bis das 100er Feld vorbeigezogen ist. Aber die Wege sind dicht bewachsen, und die wenigen guten Plätze sind alle belegt. Ich versuche eine Pause, aber finde keine Ruhe. Zu viele Menschen auf der Strecke, zu laut, vielleicht bin ich auch noch nicht müde genug. Also wieder weiter bis zur Verpflegung in Marla, die ich kurz nach Mitternacht erreiche. Auch dort viele schlafende Menschen in ihren Rettungsdecken.

 

 
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Cirque de Mafate

 

Ich fülle mein Wasser auf und laufe weiter. Noch ein kleines Stück bergab, dann geht es wieder steil nach oben. Nach weiteren 600 Höhenmetern geht es endgültig hinab in den Cirque de Mafate. Es ist die zweite Nacht und ich merke, dass so langsam die Müdigkeit in die lahmen Knochen kriecht. Um mich herum ist alles nass und tropisch. Es gibt links und rechts kein Plätzchen für mich, das für einen Powernap geeignet wäre. Ein Versuch scheitert kläglich. Ich treffe auf einen Franzosen, der quasi aus meinen Nachbarort kommt.

Ich werde müde und mir fällt es schwer, mich zu konzentrieren. Am Ende des Downhills folgt eine kleine Brücke aus Gitterrosten. Danach geht es wieder steil bergan. Ich lege mich kurzerhand auf die Roste und mache für eine halbe Stunde die Augen zu. Schlafen kann ich nicht, aber die Pause tut mir gut. Noch bevor der Wecker geht, stehe ich wieder auf. Die Dämmerung bricht an und es beginnt einer der wohl schönsten Abschnitte des Rennens.

 

Traumhaft

 

Es geht über den Grat einer der senkrechten Felswände, die den Cirque durchziehen. Sehr ausgesetzt und wunderschön. Um uns herum dichte Vegetation Die Kraterwände werden von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet. Traumhaft. Mein Körper wird durchströmt von der Schönheit um mich herum. Ich sauge diese Energie, die von der Umgebung abgegeben wird, regelrecht in mir auf.

Bald erreichen wir das erste Dörfchen im Talkessel. Es gibt einen Campingplatz und einen kleinen Laden, wo ich einen Kaffee zu mir nehme. Noch ein Schwätzchen und weiter geht es zur eigentlichen Verpflegung in Aurere. Meine Frau berichtet mir, dass Buki am letzten Verpflegungspunkt in der Zivilisation ausgestiegen ist. Er war zu erschöpft für den Cirque de Mafate und hat die Reißleine gezogen. Katja hat das Cutoff in Cilaos um drei Minuten verpasst. Sie ist während des Laufens mehrfach eingeschlafen. Das war mir klar. So ein Brett kann man nur gut ausgeruht angehen.

 

 
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Es ist bald Mittag und sehr warm. Rund um die Verpflegung sind alle schattigen Plätze belegt. Ich irre umher, finde aber keinen Ort zum Entspannen. Auf das Essensangebot bei der Verpflegung habe ich keine Lust. Ich nehme einen Kaffee und drei Butterkekse und fertig. So fällt die Pause erst mal flach und ich mache mich gleich weiter. Die wenigen Dörfer im Cirque de Mafate liegen auf kleinen Plateaus, sogenannten Îlets. Um das nächste Dorf zu erreichen, muss man also erst mal absteigen und dann wieder hochsteigen. Dazwischen hat man auch meistens noch eine der senkrecht aufragenden Felswände zu erklimmen. Das ist in der Hitze sehr anstrengend und der Schweiß fließt in Strömen.

Über Treppen und große Stufen geht es durch den wild zerklüfteten Talkessel sechshundert Meter hoch und wieder runter zur letzten harten Prüfung. Dem Aufstieg zum Maïdo. Ich war mit meiner Frau schon vor Tagen dort oben am Aussichtspunkt, konnte aber beim besten Willen keinen Weg in der senkrechten Wand erkennen.

 

Die Wand

 

Jetzt stehe ich an einem Fluss, hinter dem genau diese Wand beginnt. Darin erkenne ich die bunten Shirts meiner Mitstreiter. Okay, da geht es also hoch. Es gibt vom Veranstalter noch eine Extraportion Wasser. Dann quere ich den Fluss zum Aufstieg. Ich versuche von Beginn an, das Tempo konstant zu halten. Große Stufen und Tritte kosten sehr viel Kraft. Der senkrechte Fels ist schwarz und hat sich bereits so aufgeheizt, dass man sich fast die Finger daran verbrennt. Ich fühle mich wie im Backofen. Wenn ein laues Lüftchen bläst, kommt noch die Umluftstufe dazu.

Stoisch ziehe ich nach oben. Die Ausblicke sind unbeschreiblich schön und ich genieße die Strecke trotz der immensen Anstrengung. Wir erreichen einen Wasserlauf, der zur Versorgung der Dörfer genutzt wird. Viele füllen ihre Flaschen hier auf. Wir folgen ein Stück dem Bachlauf, dann geht es wieder über große Stufen in die Höhe. Ich versuche abzuschalten und die Strapazen und die Müdigkeit, die langsam einsetzt, zu verdrängen.

Ich ordne die Felsstufen in zwei Kategorien. Form A sind die Stufen, die man mit einem Schritt nehmen muss. Form B sind die Stufen, bei denen man noch einen Zwischenschritt einlegen kann. Ich bevorzuge Form B eindeutig und frage mich, wer wohl für Form A verantwortlich ist. Natürlich ist das alles total absurd, aber ich finde Gefallen daran. Es lenkt mich ab und ich vertreibe damit die Müdigkeit.

 

 
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Bei der Îlet des Orangers habe ich den ersten Abschnitt der 1.700 Meter hohen Felswand geschafft. Ich fülle die Flaschen und gehe sofort zum nahegelegenen Kiosk, wo ich einen doppelten Espresso, einen Radler und zwei große Flaschen kalten Sprudel bestelle. Nacheinander schütte ich alles in mich hinein. Eine Flasche Sprudel kommt in den Rucksack. Dann geht es in der Mittagshitze weiter. Die letzten 1.100 Höhenmeter wollen bis heute Abend bezwungen sein.

Es folgt die senkrechte Felswand. Am Anfang überwiegend Form A, dann Form B. Die Blicke nach unten sind unbeschreiblich. Den Blick nach oben vermeide ich so gut es geht. Einige ausgesetzte Stellen rauben einem den Atem. Vor mir ziehen dünne Wolken über den Kraterrand und ich bin froh, dass die Sonne mehr und mehr verdeckt wird. Auf einem schmalen Grat wechseln wir zur gegenüberliegenden Felswand. Das ist der letzte Abschnitt.

Alle zweihundert Höhenmeter gönne ich mir eine Trinkpause. Es läuft besser, als ich dachte. Schon von weit unten hört man Glocken und Anfeuerungsrufe. Applaus und Jubel. Die Wolken werden immer dichter und es wird kühl. Die Dämmerung bricht langsam an und 100 Höhenmeter vor dem Erreichen des Maïdo muss ich die Kopflampe auspacken. Wolkenfetzen ziehen vorbei und geben ihre Feuchtigkeit ab.

 

Geschafft


Oben angekommen, empfangen mich viele Menschen. Sie warten hier, um ihre Lieben nach der Strapaze ausgiebig zu versorgen. Es ist dunkel und ich muss nach der weiteren Strecke fragen. Dankbar nehme ich eine Flasche Sprudel von einem Helfer an. Bis zur Verpflegung ist es noch ein Stück, aber den brutalen Anstieg habe ich hinter mir. Es beginnt ein wenig zu regnen, aber es sind nur einige Tropfen, die aus den Wolken fallen, die uns umgeben. Das war die letzte harte Prüfung des Rennens. Ab jetzt wird es einfacher.

 

 
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Ich konnte die Zeit halten und bin glücklich, dass ich das Schlimmste hier hinter mir habe. Ich fühle mich gut und obwohl bereits die dritte Nacht angebrochen ist, fühle ich mich noch recht frisch, als ich die Verpflegungsstelle am Tête Dure erreiche. Unter meinem Fuß bahnt sich eine Blase an, die ich umgehend versorge. Ich ziehe mir frische Strümpfe an. Es ist kalt und ich friere ein wenig, aber ich will mich ja nicht lange aufhalten. Ich warte noch bis die Toilette frei wird. Es dauert und dauert. Ich setze mich wieder und warte. So verliere ich fast eine halbe Stunde. Macht nichts. Den schwierigsten Teil der Diagonale des Fous habe ich geschafft. Jetzt muss ich das Ding nur noch nach Hause schaukeln. 50 Kilometer mit 1.600 Höhenmetern. Und noch 22 Stunden Zeit.

 

Wie Gewonnen, so Zerronnen

 

Als ich wieder auf der Strecke bin, merke ich, dass mir das lange Sitzen nicht gutgetan hat. Meine Beine sind schwer. Die Strecke ist auch nicht so einfach, wie ich dachte. Die kurzen steilen Rampen, die den Downhill ständig unterbrechen, sind sehr frustrierend für mich. Ich habe viel Zeit verloren und merke jetzt, dass mir die Kraft ausgeht. Ich hätte mich an den letzten beiden Verpflegungen besser ernähren müssen. Zeit genug hatte ich ja. Ich nehme mein letztes Gel und versuche bergab Tempo zu machen, was auch ganz gut gelingt.

Dann meldet sich meine Kopflampe. Sie braucht einen neuen Akku. Als ich wieder aufstehe fühlen sich meine Beine und Füße nicht gut an. Die Oberschenkel und Füße schmerzen bei jedem Schritt und es wird immer schlimmer. Ich merke, dass ich so langsam die Kontrolle über die Beine verliere und wechsele in schnelles Gehen. Auch das wird immer schwieriger. Schließlich fällt es mir zunehmend schwer, größere Stufen hinabzusteigen. Ich kippe einfach nach hinten um oder falle zur Seite in die Büsche. So quäle ich mich eine Zeitlang den Berg hinunter. Das wird schon wieder. Jetzt bloß nicht verzweifeln. Aber die Zeit läuft mir davon.

Es ist noch weit bis zur Verpflegungsstation und ich werde immer langsamer. Ich rufe meine Frau an, dass sie zur VP kommt, damit ich mich bei ihr anständig verpflegen kann, falls dazu an der Verpflegung nicht mehr genug Zeit bleibt. Danach folgt ein flacher Abschnitt, auf dem ich regenerieren kann. Aber auch das ist illusorisch. Für den nächsten Kilometer brauch ich fast eine Stunde. Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten. Bei jeder Stufe stürze ich. Ich versuche irgendwie weiter zu kommen.

 

 
 
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Das Ende

 

Die Strecke wird zwar einfacher, aber die Beine wollen einfach nicht mehr. Drei Offizielle, die den Müll auf der Strecke einsammeln, laufen auf mich auf und unterstützen mich. Sie gehen neben mir her und halten mich an Stufen fest, dass ich nicht hinfalle. Ich realisiere langsam aber sicher, dass das Rennen für mich gelaufen ist. Ich werde die Verpflegung nicht mehr im Zeitlimit erreichen. Ich bin am Ende. Ich telefoniere mit meiner Frau, dass sie mich an der nächsten Straße, die ich erreiche, abholt. Es ist vorbei.

Ich sage den Helfern, dass sie mich alleine lassen können, aber sie bestehen darauf, mich weiter zu begleiten. Bis zur nächsten Straße ist es nicht mehr weit. Unterwegs mache ich mir an einem Haufen Äste zwei Stöcke zum Stützen. Damit kann ich wieder selbstständig laufen. So schaffe ich es wenigsten zeitnah zur nächsten Straße. Unterwegs sammeln wir eine Läuferin ein, die mit mir das gleiche Schicksal teilt. Die Helfer sind sehr nett und wissen, wie groß die Enttäuschung bei uns sein muss.

Wir erreichen die Straße und meine Frau ist mit Buki gleich zur Stelle. Sie haben eine abenteuerlich Fahrt hinter sich und sind froh, mich endlich erreicht zu haben. Nach 52 Stunden, 142 Kilometern und 8.850 Höhenmetern ist für mich Schluss. Mir fehlt eine Stunde, um die Verpflegung zu erreichen, die nur wenige Kilometer entfernt ist. Ich bin komplett im Sack.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich zu viele unnötige Pausen gemacht habe. Ich war mir zu sicher. Ich habe die Ernährung vernachlässigt. Außerdem hätte ich vorher mehr trainieren müssen. Ich hätte auch noch ein paar Kilo abspecken können. Hätte, hätte, hätte. Vielleicht stimmt auch einfach Bukis These: No country for old men. Vielleicht sind wir einfach zu alt für so ein Brett. Wie auch immer. Diesmal hat es nicht gereicht.

 

 
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La Redoutte

 

Im Auto falle ich sofort in einen tiefen Schlaf. An die Ankunft im Hotel und die Dusche kann ich mich nicht mehr erinnern. Nach fünf Stunden Schlaf stehen wir auf und fahren nach dem Frühstück zum Stadion La Redoutte, um die Dropbags abzuholen. Es ist Mittag und viele Läuferinnen und Läufer laufen im Stadion ein. Es sind immer noch vier Stunden Zeit bis zum Cutoff. Meine Beine sind noch sehr schwer.

Ich freue mich für die Ankommenden, bin aber gleichzeitig sehr enttäuscht, dass es diesmal nicht gereicht hat. Ich erlaube mir ein paar Tränen der Wehmut, bleibe aber realistisch genug, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Die Diagonale hat mir diesmal unerbittlich meine Grenze aufgezeigt. Trotzdem bin ich froh, dass ich dieses Abenteuer, die fantastische Stimmung auf und neben der Strecke und die unbeschreibliche Schönheit der Insel, erleben durfte.

Jetzt heißt es erst mal regenerieren und wer weiß? Mit neuer Strategie und ausreichendem Training ist die Diagonale des Fous vielleicht noch einen zweiten Versuch wert. 

 

 

Fazit

 

Es gibt viele Rennen, die das Attribut „legendär“ für sich beanspruchen. Die Diagonale des Fous auf der französischen Insel La Réunion im indischen Ozean, wurde von der Zeitschrift L’Equipe sogar zum weltweit legendärsten Ultratrail gekürt.

Seit 1989 treffen sich Ende Oktober Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt, um hier den Saisonabschluss zu feiern. Dabei wird die wilde Insel, die zu 42% zum UNESCO Weltnaturerbe erklärt wurde, von Süd nach Nord durchquert. Für die 175 km mit 10.500 Höhenmeter hat man 66 Stunden Zeit. Das ist viel, aber beim Studium des Streckenprofils relativiert sich das schnell. Der Grand Raid ist bekannt für seine extremen Bedingungen und Schwierigkeiten auf allen Ebenen. Stöcke sind nicht erlaubt.

7560 Teilnehmende stellen sich auf fünf verschiedenen Strecken der Herausforderung. Die Plätze sind sehr begehrt und werden verlost. Für deutsche und andere nicht-französische Interessentinnen und Interessenten ist die Chance auf eine Teilnahme sehr hoch. Bei Franzosen und Einheimischen liegt sie dagegen bei weniger als 50 %. Die Diagonale des Fous ist in Frankreich, zu dem die Insel gehört, sehr bekannt und auf der Insel selbst zählt die Teilnahme quasi zum Pflichtprogramm jeder Einwohnerin und jedes Einwohners. Die ganze Insel ist beim Grand Raid eine volle Woche im Rennfieber.

Die Anreise erfolgt am besten über Paris. Von dort geht der Inlandsflug Non Stop in zehneinhalb Stunden nach Saint Denis, dem Zielort des Rennens. Man kann auch über Mauritius anreisen und wer clever bucht, kann auch ein wenig Geld sparen. Ein Schnäppchen ist es dann aber immer noch nicht.

 

Strecken     

       

La Diagonale des Fous                                  175 km/8.302 D+

Le Trail de Bourbon                                       100 km/6.000 D+

La Mascareignes                                             70 km/4.000 D+

Le Metis Trail                                                   50 km/2.500 D+

Le Zembrocal Trail (Staffel)                        149km/9.115 D+

 

 

 

 

Informationen: Grand Raid Reunion
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