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30.08.20 - Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB)

ABGESAGT: ERINNERST DU DICH? (58)

Autor: Klaus Duwe

Gäbe es Corona nicht, wäre dieses Wochenende der UTMB, der heute für jeden Trailrunner ein Begriff ist. Das war nicht immer so.  Gerade mal zwei Dutzend Läuferinnen und Läufer aus Deutschland waren bei der vierten Auflage 2006 am Start, als wir zu sechst zum ersten Mal an dem Laufabenteuer teilnahmen.

Es war wirklich ein Abenteuer, denn wir wussten gar nichts und kannten nur das Streckenprofil, die Distanz und die Höhenmeter von der Veranstalter-Website. Laufberichte und Bilder, wie man sie heute von Marathon4you und Trailrunning.de her kennt, gab es nicht. Trailrunning war noch ganz am Anfang. Geradezu amüsant lesen sich einige Anmerkungen in meinem folgenden Bericht, vor zum  Mitführen von Stöcken. Aber so war das eben damals. Deshalb ist es ja so interessant, sich zu erinnern.  

Der folgende Bericht handelt vom CCC (Courmayeur – Charmonix). Ein Jahr später wagte ich mich übrigens auf die große Schleife, scheiterte aber am Zeitlimit und musste ein Courmayeur aussteigen. Ich kenne also die ganze Strecke, bin sie aber praktisch in 2 Etappen gelaufen.

 

 

Grenzerweiterung (2006)

 

Zum ersten Mal in meinem Läuferleben bin ich nicht für die längste ausgeschriebene Laufdistanz angemeldet. Kein Beinbruch, denn die gewählte „Kurzstrecke“ misst immerhin 86 Kilometer. Dass dabei über 4.500 Höhenmeter zu bewältigen sind und ich bei meinem Tempo die ganze Nacht unterwegs sein werde, dabei auch noch im Rucksack eine vorgeschriebene Notausrüstung und Klamotten mit mir führen muss, macht das Unternehmen zusätzlich spannend.

 

 

 
 
Courmayeur
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Gestartet wird das Rennen mittags um 12.00 Uhr in Courmayeur in Italien, die Nacht wird in Champex in der Schweiz erwartet und in Chamonix in Frankreich wird das Ziel erreicht. The North Face Ultra Trail du Tour du Mont Blanc* hat bereits bei seiner 4. Auflage einen legendären Ruf und die erstmals angebotene Teilstrecke soll über kurz oder lang der „großen Runde“ über 158 Kilometer (8.500 Höhenmeter) weitere „Kunden“ zuführen.

Dabei wäre das gar nicht notwendig, denn unvorstellbar viele (7.000!) haben sich um die 3.500 Startplätze (2.500 für 158 km, 1.000 für 86 km) beworben. Hier in Frankreich ticken die Ultra-Uhren offensichtlich anders. Mehr als 400 solcher Trails im Jahr mit den unterschiedlichsten Distanzen soll es hier geben. Kein Wunder also, wenn zwar Läuferinnen und Läufer aus 48 Nationen am Start sind, aber die Einheimischen das weitaus größte Kontingent stellen.

*so lautete damals der sperrige Name. Heute sagt man UTMB und alle wissen Bescheid

 

 
Chamonix
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Chamonix  (1032 m, Département Haute-Savoie) ist das Zentrum des französischen Alpinismus und ein renommierter Skiort mit ungefähr 10.000 Einwohnern. In Spitzenzeiten werden im Tal der Arve 60.000 Gäste beherbergt. 1924 fanden in Chamonix große Wintersportdemonstrationen statt, die so erfolgreich waren, dass man die Veranstaltung rückwirkend zu Olympischen Spielen und die Gewinner zu Olympiasiegern erklärte.

 

 
Aiguilles de Chamonix
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Hauptattraktion ist natürlich der Mont Blanc, mit 4.808 Metern höchster Berg der Alpen, mit seinem bis fast zum Talboden reichenden Gletscher (Glacier des Bossons). Bereits 1786 bestiegen Jacques Balmat und Michel-Gabriel Paccard den Mont Blanc, der bis dahin als unerreichbar galt, weil man sich sagte, dass man eine Nacht im Gebirge nicht überleben könne.

Unter Kennern wird inzwischen Courmayeur (1220 m) als neue Alpin-Metropole gehandelt. Das nicht nur französisch klingende, sondern auch so sprechende und 1.800 Einwohner zählende Städtchen liegt im Aostatal in Italien, unweit der Einfahrt zum Mont-Blanc-Tunnel. Nach 72 Kilometern erreichen die Läuferinnen und Läufer auf der großen Runde Courmayeur, die 86 Kilometer lange Strecke wird hier gestartet.

Als ich am Donnerstag Chamonix (von Basel ca. 270 Kilometer) erreiche, regnet es und es ist kalt. Das Wetter ist genauso, wie man es seinem schlimmsten Feind nicht für einen Ultra-Berglauf wünscht. Aber die Prognosen für Samstag sind gar nicht mal so schlecht.

 

 
Check-in
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Im riesigen Sportzentrum werden die Startunterlagen ausgegeben. Die Parkplätze im großen Umkreis sind belegt, es wimmelt von Campern, Wohnmobilen und Caravans. Die abenteuerlichsten Gestalten treiben sich auf dem Gelände herum. Ein Shirt mit gemeinem Marathon-Aufdruck habe ich nicht gesehen. Swissalpine ist das Minimum.

Vor den Countern hat sich eine lange Schlange gebildet. Jeder einzelne Rucksack wird genau inspiziert und der Inhalt überprüft. Drin müssen sein: lange Hose, Anorak, Notration zu Essen, 1 Liter Getränk, Stirnleuchte, Taschenlampe, Batterien, Trillerpfeife, elastische Binde und Rettungsdecke.

Mit der Anmeldung muss ein ärztliches Gesundheitszeugnis eingereicht, oder spätestens jetzt vorgelegt werden. Dann will man den Ausweis sehen. Ist auch daran nichts zu beanstanden, gibt es die Startunterlagen und die Nummer mit dem integrierten Chip, der auch gleich gecheckt wird. Dazu kriegt man hier ein superchices Funktionsshirt – blau für die 86 Kilometer-Strecke, rot für die 158 Kilometer.

Außerdem bekommt man ein netzartiges kleines Behältnis, das man an den Gürtel machen kann. Sieht schön aus, es ist auch das Veranstaltungslogo drauf und muss sehr wichtig sein. Madame gibt es mir extra in die Hand und spricht ernste Worte zu mir. Ich verstehe sie nicht, aber sie hat mir Respekt eingeflößt und ich erkundige mich anderswo, was es mit dem Ding auf sich hat. „Das ist für den Abfall, es darf unterwegs nichts weggeworfen werden. Im schlimmsten Fall kannst Du nämlich disqualifiziert werden.“  So ist es recht.

Jetzt könnte es losgehen. Ich bin nervös, wie beim ersten Marathon. Wir sind mit zwei Autos angereist: Eberhard hat Elvira, Grace und Norman dabei, die auf dem Campingplatz übernachten. Er selbst hat mit Bernhard, der mit mir unterwegs ist, und einem weiteren Lauffreund eine Wohnung gemietet. Ich wohne im Hotel im Centrum. Ich halte es für wichtig, dass sich bei einem solchen Unternehmen jeder entsprechend seiner Vorlieben einrichtet.

Zum Essen treffen wir uns am Abend alle in einer Trattoria. Es ist kühl, allerdings hat der Regen aufgehört. Die meisten Gäste sitzen draußen, warm in Fleece oder Anoraks gepackt. Ich wette, alle haben mit dem Lauf zu tun.

 

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Bildgalerie von 2013

 

 

 
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Ich kann nicht gut schlafen. Dauernd bin ich wach, höre den Bach und denke, es regnet. Obwohl ich viel in den Bergen unterwegs war und mich gut vorbereitet fühle, kommen mir Zweifel. Der Berg hat mir Respekt, mehr noch, er hat mir Angst eingeflößt. „Du musst da nicht rauf, Du musst nur drum rum,“ muss ich mir einreden. Es hilft nicht, ich bin am falschen Platz, ich gehöre hier nicht hin.

Endlich dämmert es, ich gehe zum Fenster und sehe vor dem Mont Blanc dichten Nebel, der bis in Tal reicht. Ich gehe auf den Balkon und sehe, wie die Felsentürme aus dem Nebel ragen und von der Sonne angestrahlt werden. Ich erinnere mich an Zermatt. Genauso präsentierte sich am Renntag morgens das Matterhorn und dazu meinte dann die Wirtin: „Es wird ein schöner Tag.“ 

Ich frühstücke ganz normal, mit Schinken und Käse. Zuerst wollte ich noch etwas die Stadt ansehen, aber ich habe keine Ruhe. Ich gehe mit meiner Ausrüstung zum Sportzentrum und dort  zum Busparkplatz. Ich nehme gleich den nächsten.  Nichts wie weg.

Die Freunde sind schon früher nach Courmayeur gefahren, um dort zu frühstücken. Die Fahrt geht durch den 16,1 Kilometer langen Mont-Blanc-Tunnel und dauert nur ungefähr 40 Minuten. Das Wetter entwickelt sich prächtig, der Nebel verzieht sich und als wir in an unserem Startort eintreffen, strahlt die Sonne vom fast wolkenlosen Himmel. Optimismus und Ruhe kehren in mich zurück.

 

 
Folklore
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Obwohl in Courmayeur französisch gesprochen wird - man ist in Italien, und man kann es spüren. Aus den Bars duftet der Espresso, viele Boutiquen mit teuren Designer-Klamotten befinden sich rechts und links der schmalen Straße, dazwischen Schmuck- und Uhrengeschäfte und noble Restaurants.

Ich treffe Eberhard, Bernhard und die anderen. Zusammen sitzen wir in der Sonne und sehnen den Start herbei. Der Platz füllt sich. Immer mehr Läuferinnen und Läufer bevölkern das Städtchen. Und alle, wirklich alle, haben Stöcke dabei. Nur ein paar „Exoten“ sind ohne. Ich habe meine zwar mitgenommen, aber nach eingehender Diskussion dann doch im Auto gelassen. War das ein Fehler?

Wir gehen zum Startplatz. Sie spielen Vangelis rauf und runter. Die Zuschauer mögen es, auch die Aktiven. Es geht unter die Haut. Wie mit Gladiatoren und Soldaten macht man es mit uns: erst euphorisieren und dann den Berg hochjagen. Aber halt, ich bin freiwillig hier, es geht um Sport und Abenteuer.

Die Durchsagen sind in französisch und italienisch und daher für uns nicht verständlich. Wir wissen aber, was zu tun ist: laufen, immer den rot-weißen Bändern nach, bis Chamonix.

Endlich, mit fast neun Minuten Verspätung werden wir losgelassen. Läufer und Zuschauer jubeln sich zu. Die Stimmung und die Atmosphäre sind einmalig. Der ganze Ort steht dieses Wochenende im Zeichen des Rennens um den Mont Blanc. Wir laufen eine Schleife durch die engen Straßen und genießen die Bewunderung, die die vielen Menschen uns gegenüber zum Ausdruck bringen.

 

 
Start in Courmayeur
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Ich habe mit Eberhard verabredet, dass wir nach Möglichkeit zusammenbleiben, vor allem wegen der Nacht. Als ich allerdings ein paar Bilder mache, ist er in der großen Menschenmenge verschwunden. Nur das nicht, denke ich und renne los. Das ist nicht einfach, die Stöcke werden jetzt am langen Arm getragen, Spitze nach hinten. Ich fürchte, wie ein Hähnchen im Wienerwald zu enden. Als wir dann an das erste richtige Steilstück am Saxe kommen, wird es noch besser: Stau, wie auf der Autobahn, wenn aus drei plötzlich eine Fahrspur wird. Und wie dort, gibt es auch hier Drängler. Statt der Lichthupe setzen sie zu den Stöcken die Ellenbogen ein. Meine Laune ist beim Teufel.

Auch als wir nach 75 Minuten das Ref. Bertone (km 5, 1989 m) erreichen, herrscht arges Gedränge an der Verpflegungsstelle. Eberhard wartet hier auf mich und hat einen ganz dicken Hals. Es wird mir klar, dass es so nicht weiter geht. Ich kann die für diesen Kraftakt notwendige Energie nicht aufbringen, wenn ich mich dauernd aufrege. Ärgere ich mich nur, weil meine Stöcke im Auto liegen? Ich weiß deren Vorzüge durchaus zu schätzen und bekomme es auch hier eindrucksvoll demonstriert. Mein Entschluss lautet: das nächste Mal mit Stöcken. Damit sind die Unannehmlichkeiten zwar nicht aufgehoben, aber ich stochere dann selber in der Luft und im Boden rum und brauche mich nicht mehr darüber aufzuregen. 

Wir sind oberhalb des Val Ferret und schauen auf die Südhänge des Mont-Blanc mit Dent du Geant (Zahn des Riesen) und Grand des Jorasses. Das Laufen in dieser grandiosen Landschaft und auf dem jetzt fast ebenen und sehr guten Weg ist das reinste Vergnügen. Ich bin restlos begeistert und könnte ohne Ende fotografieren. Herrlich blühende Blumen säumen den Weg, der von etlichen mehr oder minder breiten und tiefen Bächen gekreuzt wird. Manche der Almhütten sind verfallen, andere sind bewohnt, wie der Rauch aus den Kaminen verrät.

 

 
Südhänge des Mont Blanc
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Obwohl ich einen ziemlich großen Teil des folgenden Streckenabschnittes im Laufschritt zurücklege, brauche ich durch etliche Anstiege zwischendurch für die sieben Kilometer zum Ref. Bonatti (km 12, 2020 m) fast zwei Stunden. Es wird schon klar, weshalb der Veranstalter das Mitführen von Eigenverpflegung zur Pflicht macht.

Nach der Hütte geht es noch ein Stück bergauf zur Malatra-Alm und vorbei an den verfallenen Hütten von Gioé zur Arnuva-Höhe. Wieder folgt ein grandioser Höhenweg, meist eben und gut zu laufen, mit fantastischen Ausblicken. Dann geht es in Serpentinen steil abwärts nach Arnuva. Die mit den Stöcken Geübten rennen den direkten Weg hinunter und fordern ziemlich rücksichtslos Vorfahrt ein.

 

 
Arnuva-Höhe
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Wir erreichen Arnuva und werden dort von vielen Schaulustigen und Wanderern lautstark begrüßt. Die Verpflegung lässt keine Wünsche offen. Stärkung ist jetzt angebracht, auf den nächsten 4 Kilometern zum Grand Col Ferret, dem höchsten Punkt der gesamten Strecke, sind fast 800 Höhenmeter zu bewältigen.

Um 15.30 Uhr machen wir uns auf den Weg. Eberhard und ich hatten uns ausgerechnet, vor Einbruch der Dunkelheit An- und Abstieg bewältigt zu haben. Das sollte uns gelingen, wir liegen gut in der Zeit. Zunächst steigt es ganz gemütlich an, dann werden die Passagen immer steiler und ruppiger. Fast senkrechte Felsabhänge und wackelige Brücken werden passiert. Ich stelle mir vor, diesen Berg bewältigen zu müssen, nachdem ich bereits 90 Kilometer hinter mir habe. Das ist nämlich die Aufgabe der Kollegen auf der 158 km langen Strecke. Ich schließe aus, das jemals zu wagen und steige zufrieden mit meiner Entscheidung weiter aufwärts.

 

 
Anstieg zum Grand Col Ferret
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90 Minuten brauche ich für den Aufstieg, dann sehe ich von weitem ein gelbes Zelt und gleich bin auf dem Grand Col Ferret (km 21, 2537 m), der gleichzeitig die Grenze zur Schweiz ist. Links dominiert der Mont Colent, sozusagen als „Grenzstein“ zwischen Schweiz, Italien und Frankreich - Symbol der Tour.

Als Bergwanderer packt man jetzt den Rucksack aus, macht eine Brotzeit, bestaunt die fantastischen Berge, studiert die Wanderkarte und legt sich ein Stündchen in die Sonne. Von alledem gibt es für uns nichts, die Verpflegung ist vier Kilometer weiter unten an der Alpages de la Peule (km 25, 2071 m). 30 Minuten brauchen wir, der schnellste Streckenabschnitt bisher.

 

 
Verpflegungsstelle La Peule
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Ein warmes Süppchen mit Brot ist jetzt recht, dann noch reichlich trinken, und weiter geht’s. Weil wir gut in der Zeit liegen, haben wir uns  vorgenommen, vor der Dunkelheit in Champex zu sein. Also lassen wir es rollen, wo es nur geht. Manchmal ist es aber so steil, dass es abwärts kaum schneller geht, als bergauf. Wir kommen an den Bach Ferret, der zur Schneeschmelze ein reißender Fluss sein muss. Jedenfalls führt ihm  der Sturzbach von links dann weitere Wassermassen zu und so ist sein Bett stellenweise geschätzte 50 Meter breit. Kurz vor La Fouly (km 30, 1593 m) kommen wir auf eine Teerstraße. Meine Füße wissen gar nicht, wie ihnen geschieht.

 

 
La Fouly
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An der Verpflegungsstelle gibt es den besten Käse und die beste Salami mit dem besten Brot der Welt. Ich schaue zur Uhr: 18:26 Uhr – bald starten die Kollegen auf die ganz große Schleife. Hier werden sie km 102 erreicht haben, und wer nicht mehr will oder kann, steigt hier aus und kommt in eine spezielle Wertung. Also nicht DNF. Das gilt auch für alle folgenden Kontrollstellen. Apropos Kontrolle:  Ich möchte noch erwähnen, dass an allen Verpflegungsstellen die Startnummer per Scanner eingelesen wird.  Manchmal sogar beim Eintreffen und beim Verlassen. Der Mensch am großen Rechner weiß also immer Bescheid. Das ist gut.

Ich trenne mich nur ungern vom Wurst- und Käsebuffet, muss aber weiter. Neun Kilometer sind es meist abwärts bis Praz de Fort. Weil es manchmal recht unwegsam ist und einige kleine Anstiege auch dabei sind, brauchen wir dafür dennoch 70 Minuten.

 

 
Praz de Fort
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Ich erwähne die Kilometer und Zeiten immer wieder mal, um einen Eindruck zu vermitteln. Dabei sind sie alleine überhaupt nicht wichtig. Entscheidend sind die Höhenmeter (Abstieg nicht vergessen) und die Beschaffenheit der Wege. Hier beim Ultra-Trail du Mont Blanc kommt noch dazu, dass man mindestens eine Nacht im Hochgebirge unterwegs ist. Und davor habe ich Schiss.  Also tschüss, ich muss weiter.

Gleich nach dem Ort habe ich eine Begegnung mit zwei Eringerkühen. Sie sind hinter Elektrodraht, was mich einigermaßen sicher macht. Denn diese rabenschwarze Tiere werden nicht etwa zur Milchgewinnung gehalten, sondern sind richtige Raufbolde und werden als solche im Frühjahr und Herbst in verschiedenen Wallis-Dörfern bei Kuhkämpfen eingesetzt.

 Nach knapp zwei gemütlichen Kilometern geht es bergauf. Wir haben also unseren Plan übererfüllt, haben den Grand Col Ferret hinter uns und den ersten Anstieg danach vor uns. Wir werden auch das nächste Ziel, Champex (km 45, 1477 m), erreichen, bevor es richtig dunkel wird. Wir sind noch immer in der Schweiz, im Wallis, aber es wird französisch gesprochen.

 

 
Kontrolle in Champex
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Viele Leute stehen an der Straße, bewundern die Läufer und Marschierer und sparen nicht mit Komplimenten und Aufmunterung. „Chapeau“, rufen sie immer wieder. Das große Verpflegungszelt mit den Lichterketten ist rammelvoll. Es sind viele Gäste hier, um das Treiben hautnah mit zu erleben. Das Angebot ist gigantisch. Ich nehme diesmal wieder Suppe und dazu Kaffee. Zum ersten Mal setze ich mich dazu hin.

Dann ist Kleiderwechsel angesagt. Ich habe meine kompletten Winterklamotten dabei: lange Windstopper-Hose und –Jacke, Mütze und Handschuhe. Auf die lange Hose will ich verzichten und lasse die kurzen an. Jetzt noch Stirnlampe auf, und dann geht es raus in die Nacht. Nicht weit, nur bis zum See kommen wir. Ich kann nicht so schnell laufen, wie ich friere. Eberhard geht es genauso. An der nächsten Sitzbank werden auch die Beinkleider gewechselt, dann fühl ich mich wohl. Nach insgesamt rund 40 Minuten Pause sind wir wieder voll in Aktion. Die Nacht ist sternenklar und wunderschön, aber kalt.

Ich kenne die Nacht in Biel, aber im Hochgebirge fehlt mir jede Erfahrung. Meine Petzl mit 3 LED’s für den Nah- und Xenon für Fernbereich habe ich mir extra gekauft und noch nicht ausprobiert. Ich bin auf Anhieb begeistert. Natürlich kann ich mit den 14 LED’s von Eberhard nicht mithalten. Wenn er in meiner Nähe ist, könnte ich meine Lampe ausmachen. Genau richtig zum Eingewöhnen ist der Weg zunächst recht breit und erst nach einer halben Stunde sind wir dann auf einem schmalen, steinigen und von Wurzeln durchzogenen Weg, der immer steiler wird.

Ziel ist Bovine, kurz vor dem Collet Portalo. Aber bis dahin ist noch ein langer Weg, mit dem ich auch bei Tageslicht meine Probleme hätte. Riesige Steine und Felsbrocken müssen umgangen werden, manchmal bin ich auf allen Vieren zugange, halte mich an Sträuchern und Wurzeln fest. Wenn ich mich dann mal wieder aufrichte, wird mir schwindelig und ich torkele wie besoffen. Hoffentlich hat der Weg bald ein Ende. Ich schaue noch oben – alles schwarz, bis auf ein paar Lichtpunkte. Sind das Sterne oder Lampen? Lampen, ich will es nicht glauben, so weit sind sie über mir und so weit sind sie weg. Wie soll ich da jemals hinkommen?

Ich verfluche den Tag der Anmeldung zu diesem Wahnsinn. Was habe ich mir vorgenommen? Nächstes Mal nehme ich Stöcke mit? Ich habe eine viel bessere Idee: Das nächste Mal können die das alleine machen. Ich schimpfe und fluche und vergesse dabei nicht, weiter zu gehen, zu kriechen, zu klettern, was gerade verlangt wird. Rechts unten sehe ich ein großes Lichtermeer. Ich denke, es ist Martigny und stelle mir vor, wie die Menschen gemütlich im Wohnzimmer sitzen oder schon im warmen Bett liegen und friedlich schlafen.

Fast zwei Stunden bin ich am Kämpfen, dann sehe ich größere Lichter und höre Stimmen. Im Schein des Feuers sehe ich Zelte, ich habe Bovine (km 54, 1987 m) erreicht. Es ist genau Mitternacht.

 

 
 
Posten Bovine
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Ich denke es, Eberhard spricht es aus: „Ich bin fertig mit der Welt!“ Er ist vor mir da und kommt gerade aus dem Zelt, um nach mir zu sehen. Vor einem kleinen Heizgerät kauere ich mich nieder und friere wie ein Hund. Trotzdem will ich nie mehr aufstehen. Eberhard kramt seinen Streckenplan raus und malt den Teufel an die Wand. Und der sieht so aus: 6 Kilometer und 700 Höhenmeter runter, dann 4 Kilometer und 700 Höhenmeter wieder rauf.

Mein Plan, aber den behalte ich für mich, sieht so aus: Nichts wie runter hier, und dann ist Schluss. Langsam und widerwillig setze ich mich in Bewegung. Zuerst habe ich Mühe, mich auf dem schmalen Pfad zu halten, dann geht es immer besser. Es ist eiskalt und die Gräser sind gefroren. Die Wege sind rutschig und ich möchte nicht daran denken, was los ist, wenn es hier regnen würde. Ich gehe bewusst langsam, ich will mich so gut es geht erholen. Es ist still, keiner spricht. Ab und zu hört man das Plätschern eines Baches oder Kuhglocken. Das Klappern der Stöcke nehme ich schon gar nicht mehr wahr.

 

 
Trient, Kilometer 60
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Die Lichter des Ortes da unten müssen zu Trient (km 60, 1300 m), unserem nächsten Etappenort, gehören. Es dauert noch eine ganze Weile, bis wir in weitläufigen Serpentinen unten sind und den Ort erreichen. Als wir in das Zelt kommen, werden wir vom Sprecher begrüßt und unsere Schandtaten aufgezählt. Die Gedanken von vor zwei Stunden sind weg. Ich bin kaputt, aber es geht mir gut. Ich werde den nächsten Berg in Angriff nehmen.

 

 
Les Tseppes
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Optimistisch ziehen wir nach 20 Minuten Pause wieder los. Der Weg ist gut und auch nicht extrem steil, kein Vergleich zum Anstieg nach Bovine. Trotzdem bleiben wir hin und wieder stehen, atmen durch, trinken und gehen weiter. Ohne Probleme erreichen wir nach 70 Minuten das kleine Verpflegungszelt bei Les Tseppes (km 63, 1932 m). Kaffee wird zu meinem Lieblingsgetränk diese Nacht. Es ist nicht sehr gemütlich hier und überanstrengt haben wir uns auch nicht. Also machen wir uns nach 10 Minuten wieder auf den Weg.

Zunächst steigt der Weg weiter an, dann geht es kurz über die Hochfläche und dann bergab. Über Les Esserts (km 68, 1640 m) erreichen wir Vallorcine (km 70, 1260 m). „Chapeau,“ rufen die Mädels und weisen uns den Weg in die Halle. Über eine halbe Stunde halten wir uns auf, dann nehmen wir die restlichen 16 Kilometer in Angriff.

 

 
Süppchen für Eberhard in Vallorcine
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Es dämmert, die Nacht ist vorbei. Meine Bedenken waren unbegründet. Niemals habe ich Müdigkeit verspürt. Zu sehr waren Konzentration und Aufmerksamkeit gefordert. Ganz anders als in Biel, wo man auf den Straßen beim Laufen fast einschläft.

Die Streckenmarkierung muss unbedingt erwähnt werden. Ich höre ja oft, dass ein Landschaftsmarathon nicht leicht zu markieren ist. Hier ist ein Rundkurs von insgesamt 158 Kilometern markiert, meist durch hochalpines Gelände, das auch noch nachts begangen wird. Die Aufgabe wird bravourös gelöst. Insgesamt 5.000 Flatterbänder sind zusätzlich mit Reflektoren versehen und weisen den Weg. Durchschnittlich ist also alle 30 Meter eine Markierung. Je nach Beschaffenheit sind auch auf den Wegen mit Farbe noch Pfeile. Nicht ein einziges Mal kommen Zweifel auf, ganz zu schweigen davon, dass sich jemand verlaufen hat. Ich lasse keine Ausreden mehr gelten.

Der Tagesanbruch ist in den Bergen besonders schön. Der Himmel ist wolkenlos und schon werden die höchsten Gipfel von der Sonne erfasst und angestrahlt. Fast bin ich froh, dass ich nicht schon im Ziel bin und das sehen darf. Mir geht es immer besser und so traben wir jeden Meter Weg und Straße, der nicht zu steil bergauf  geht. 75 Minuten brauchen wir auf diese Weise für die sieben Kilometer nach Argentière (km 77, 1260 m), dem Skiort am Fuße der 4122 Meter hohen Aiguille Verte.

 

 
Morgendämmerung - auf dem Weg nach Argentière
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Die nächsten fünf Kilometer sind vergleichsweise bequem, es geht meist abwärts, und die Wege sind einigermaßen gut beschaffen. Als wir uns schon auf Chamonix freuen und damit rechnen, dass es nicht mehr lange dauert, verlassen wir unseren Weg nach rechts und es geht steil bergauf. Himmel, wer macht so was? Es ist nicht weit, aber es tut verdammt weh. Es ist ein herrlicher Aussichtsweg, mit Blick auf die Vororte von Chamonix. Aber wem ist jetzt danach?

Auch das geht vorbei und kurz vor 9.00 Uhr kommt endgültig das Zentrum von Chamonix in Sichtweite. So steil vorhin noch einmal der Anstieg war, so steil geht es nun bergab. Und genau so tut es weh. Jetzt ist das egal. Gleich an der ersten Kreuzung geht es los. Applaus und anerkennende Zurufe. Die Leute bemühen sich, die Namen auf der Startnummer zu entziffern. Meiner ist kurz, das ist von Vorteil.

 

 
 
Endlich in Chamonix
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Ich bin überrascht, wie viele Menschen so früh am Morgen schon auf den Beinen sind. Der Applaus und die Zurufe gehen unter die Haut. Ich habe Tränen in den Augen. Jetzt biegen wir rechts um die letzte Kurve zum Zielbogen. Hier sind noch etliche Leute mehr, die sich mit jedem Finisher freuen und sich die Hände wund klatschen.

Wir sind im Ziel, haben 86 Kilometer, 4500 Höhenmeter und die eiskalte Nacht im Gebirge geschafft. Wir haben unsere Grenzen erweitert, wir sind stolz und wir liegen uns in den Armen.

Ein letztes Mal der Scanner, dann ist auch die Endzeit im Kasten. Noch einmal gibt es ein T-Shirt und in dem kleinen Zelt zu Essen und zu Trinken.

Als ich ins Hotel komme, steht die Empfangsdame auf, klatscht und sagt: „Chapeau.“ Die anderen Gäste in der Hotelhalle kriegen das mit und klatschen ebenfalls. Im Frühstücksraum habe ich ebenfalls die ganze Aufmerksamkeit. Mir ist das überhaupt nicht unangenehm, ich habe mir das verdient.

Normalerweise ist jetzt Schluss. Heute geht es aber weiter. Nach dem Bad und einem kurzen Nickerchen, gehe ich zurück zum Ziel. Jetzt, wo die letzten Finisher des 86 km-Rennens eintreffen, sind noch mehr Menschen hier versammelt. Jeder Einzelne wird so herzlich, begeistert und respektvoll begrüßt, dass einem das auch als Zuschauer nicht kalt lässt. Kurz nach 12 Uhr ist dann der Letzte im Ziel.

 

 
Corinne Favre
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Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass das Rennen die Französin Corinne Favre gewonnen hat. Sie ließ die gesamte Männerelite hinter sich. Zweiter und damit Erster in der Männerwertung wurde der Engländer Alun Powell mit 18 Minuten Rückstand.

 

 
Marco Olmo
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Dann ist es 16.00 Uhr. Der Sieger der ganz großen Schleife wird erwartet. Ohrenbetäubender Lärm und stürmischer Applaus brandet auf, als Marco Olmo, der 58jährige Italiener, auf die Zielgerade einbiegt (offizielle Zeit: 21:06 :06 Stunden). Lang gestreckt legt er sich auf die Straße, küsst den Boden und lässt sich feiern. Er verbessert seine Zeit gegenüber dem Vorjahr, wo er Dritter wurde, um fast 44 Minuten.

Über eine halbe Stunde dauert es, dann kommt der Ungar Csaba Nemeth. Nach genau 21:59:29 Stunden läuft dann Lokalmatador Vincent Delebarre  (Zweiter 2005, Sieger 2004) ins Ziel und nach weiteren 16 Minuten kommt dann schon Jens Lukas  als Vierter.

 

 
 
Karine Herry
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Es ist schon dunkel, als Karine Herry aus Frankreich als erste Frau den Lauf nach 25:22:20 Stunden beendete. Sie unterbietet damit die Vorjahres-Siegeszeit von Lizzy Hawker, die als eine der Ersten gratuliert, um über 1 ½ Stunden.

Sonntag früh, das Rennen ist noch lange nicht zu Ende.  Pausenlos treffen Läuferinnen und Läufer ein. Manchmal sind sie alleine, manchmal in Gruppen. Verwandte oder Freunde kommen ihnen entgegen und  begleiten sie das letzte Stück. Frauen erwarten ihre Männer, Männer ihre Frauen und Kinder ihre Eltern. Es spielen sich unbeschreibliche Szenen ab. Immer stehen sie in Zusammenhang mit einer großartigen sportlichen Leistung, mit Dankbarkeit und Stolz, Glück und Zufriedenheit. Wildfremde Menschen fallen sich um den Hals, weinen vor Glück und Ergriffenheit.

 

 
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Informationen: Ultra Trail du Mont Blanc (UTMB)
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